Züri mit Abstechern
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Proximique sunt
Germanis, qui trans Rhenum incolunt, quibuscum continenter bellum gerunt. Qua de causa Helvetii quoque reliquos incolas Galliae virtute
praecedunt: „Den
Germanen benachbart leben die, die jenseits des Rheins wohnen, mit denen sie beständig
Krieg führen. Deshalb auch übertreffen die Helvetier die übrigen Bewohner
Galliens an Tapferkeit ...“ Mit solchen Worten rechtfertig Cäsar seinen
Vernichtungsfeldzug gegen die Helvetier und hebt die durch ihn selbst
abgewendete Gefahr hervor, die Rom von so tapferen Gegnern drohte. Ein Teil der
Braven hat überlebt und den Schweizer Landen zu ihrem Briefmarkennamen Helvetia
verholfen. Der Name Zürich oder Züri, wie die Stadt auf Schwizerdütsch sich
nennt, leitet sich vom keltischen Vornamen Turus
her, daraus wurde Turicum. Ab 550 p.
Chr. n. soll das Gebiet von Alemannen endgültig besiedelt worden sein, und
nicht von ihnen allein, wie man sehen kann.
Isch guet gsi?
Hat’s geschmeckt? fragt die kirschäugige Serviertochter mit der italienischen
Haarflut, den bildungsbeflissenen Gast aus dem Studium des
Speisekarten-Vorworts reißend. Er hatte „Fleischvögeli“ mit Nudeln: Ein
„Fleischvogel“ ist eine Hackfleischroulade; im Tagesmenü stand auch ein
„Mischtchratzerli“, das er aber vorsichtshalber nicht bestellt hat - dabei ist
das Mistkratzerli schlicht ein Hähnchen. Die kleine Szene spielt in einem
gehobenen Touristensnack, draußen braust in Schleiern aus Eiströpfchen, auf
denen die Wintersonnenstrahlen in Regenbogenfarben stehen, der Rheinfall von
Schaffhausen, und an des Rändern des gewaltigen Katarakts türmen sich bizarre
Eisgebilde wie eine Dekoration zur Schneekönigin.
Bitte zahlen.
Das Leben ist teuer. Schon die Vignette hat 48 DM gekostet. Aber immer wieder
ein Wunder für unsereinen, fast Entschädigung, das Durchgewinktwerden an der
Grenze.
Wieder einmal
eine Lesetournee ins Eidgenössische; die Schweizer haben sich nach ‘89 in
besonderer Weise mancher Ostautoren angenommen, man gewinnt noch jetzt in
Gesprächen mit BibliothekarInnen und LehrerInnen (alles Linke, grün bis rot)
den Eindruck, daß sie unsereinem mit besonderem Interesse, ja mit spezieller
Sympathie begegnen: „Es war doch nicht alles schlecht, oder?“ Selbstgegebene
Antwort: „Okay, guet isch au nit gsi.“ Na ja, sie geben zu, daß sie den
dominanten Vettern von jenseits des Bodensees zuvor sehr wohl den östlichen
Widerpart gegönnt haben. Da es den nun einmal gab. Ähnliche Bekenntnisse hört
man übrigens auch in Österreich von Braunau bis Graz.
Zürich ist
diesmal Reiseziel und zentrale Station, Gastgeber das Pestalozzianum, die
segensreiche Kantonalbehörde für das Schul- und Gemeindebibliothekswesen.
Erster Auftritt - oder „Bücher-Laasig“ - in Pfäffikon, entspannte Morgenfahrt
durchs dick bereifte Land dicht am Zürcher See entlang, zur Linken das Wasser
mit den schlafenden Enten und Schwänen. Nach dreiviertel Stunden angelangt,
kennt kein Mensch die Mettlen-Schule - es stellt sich heraus, daß man im Kanton
Schwyz gelandet ist, im Pfäffikon mit dem Zusatz SZ. Weiterer dreiviertel
Stunde Fahrt dicht am Infarkt entlang, kein Blick für irgendwelche Vögel.
Ampel, Ampel, Ampel, die Pfäffikoner mit dem Zusatz ZH für Kanton Zürich sind
telefonisch informiert, sie empfangen den Verspäteten statt mit Vorwürfen mit:
„Sie armer Mann“. Eine sechste Klasse, Grüezi, Herr Ssollmonn, man ist
vorbereitet, hat gemalt und gereimt und einen Sack voll Fragen.
Während der
Laasig, beim Vorlesen der (übrigens vor Jahren in der Schweiz erfahrenen)
Geschichte von dem kleinen Bosnier Radovan, der an einer Kriegspsychose leidet
und sich zwanghaft prügeln muß, mitten im Text ein Vorkommnis: Ein
kleingeratener Krauskopf rutscht von seinem Sitz und verkriecht sich unter den
Stuhl des Lehrers: Hinterher ist zu erfahren, daß Adlan aus Bosnien kommt wie
der Held der Story und am gleichen Syndrom krank ist. Es gibt in Zürich eine
Therapiestelle speziell für „Kriegskinder“. Aber abgesehen von Adlan unterm
Stuhl: Man hat das Gefühl, daß an Schweizer Schulen das Schriftstellerwort noch
zum Herzen spricht: Aufmerksamkeit, Zuhör-Lust, lange Konzentrationsfähigkeit
der Büebli und Maidli, die selbst noch in der Pause sich ein Buch vom Pult
grabschen, sich schmökernd und kichernd in Ecken zurückziehen. Einmal passiert
es, daß eine zweite Klasse auswendig in die Rezitation eins Ulkgedichts vom
Herrn Ssollmonn einstimmt: Es wor einmol ein Wolf,/der froß den Knoben
Rolf,/Worum? Weil niemand holf ... Und dann die Fragen an den Gast: Wie hoch
war die Mauer? Gab es in der DDR Häuser? Und der obligatorische Spaß, mit dem
jeder Ausländer auf seine Schwizerdütschkenntnisse hin überprüft wird: Wos
ischt ä Chuchichäschtli? Dann ja kein Spaßverderber sein, sondern raten. Und ja
nicht von allein auf Küchenkasten kommen.
2. Eine kleine Dichterin
In einer Zürcher
Schule: Drittklässler lesen dem Gast Selbstgedichtetes vor: Den Text von
Fabienne Lengen hat der Herr Ssollmonn sich kopieren lassen, weil er echter und
liebreizender ist, als alles, was ein alter Federfuchs so aufschreiben könnte.
Hier ist Fabiennes Märchen, leicht gekürzt, ein Tiefenpsycholog hätte sicher
seine helle Freud: Es war einmal ein
König er hat ein Kind das Kind war am weier. Das Kind has Lisa es war ser
glüklich. Eines tages war Lisa in den weier gefalen das Pferd hat es gesen es
gan zon den König aber das Pferd war nicht normal es kan reden. Under desen war
Lisa fon einen meriungman gesen und sie hate sich ferliebt. Der meriungman hate
si gesen aber Lisa schemte sich. Und das Pferd war in Panik. Lisa hate keine
Luft aber si hate es nichd gemerkt weil si ia ferlibt war. Und der meriungman
kam neher Lisa hate ein bis chän angst. Aber das Pferd schdodirte und
schdodirte. Lisa war ein bis chen durch einander. Aber das Pferd war noch mer
durch einander. Aber der meriungman hate Lisa angekukt. Aber Lisa war
ferschroken, aber hab keine angst kleines. Aber der meriungman kam imer neher
und neher. Aber Lisa war imer mehr fer liebt. Aber der meriungman sagte ich
heise kewin. Lisa dachte kan der reden. Kewin sagte ia ich kan reden. Aber das
Pferd sagte Lisa ist war scheinlich fer trunken. Lisa sagte ich wil nach hause.
Kewin Pakte Lisa und tat sie auf die obr flächä. Lisa sagte treum ich, Kewin
sagte nein du dreumst nicht ich bin ein mensch. Da kam der König er sagte Lisa
wilst du Kewin heiraten Lisa sagte ia ich wil in heiraten wo her weist du das?
Der König Sagte ich weis es fon der war Sagerin. 1 Tag später. Lisa hate ein
hochzeizchleid. Und wen sie nicht gestorben sind dan Leben Sie noch heute. Ein
gutes Ende.
Ein Ausflug zu Professor X
Mittwoch
nachmittags ist in der gesamten Schweiz schulfrei. Gelegenheit zu einem
Abstecher zu alten Freunden in Luzern. Sie haben mich gebeten, ihren Namen
nicht zu nennen, denn es sind alte Chemnitzer und wollen dieses Kapitel ihres
Lebens nicht neu auflegen, nicht Gegenstand allgemeiner, womöglich von Reporter-Neugier
werden. Besonders der Herr Professor legt darauf keinen Wert. Er hat nämlich,
das darf man wohl sagen, das Leben der Ostdeutschen mitgeprägt. Und zwar als
einer der Konstrukteure unseres genialen Trabi-Autos. Daß es genial war,
nämlich genial einfach, das bestätigen ja heute die Fachleute übereinstimmend.
Stichwort: Benzinhahnverlängerung, man erinnert sich. Und die Einfachheit, oder
sagen wir ruhig Primitivität des ersten „Rundgelutschten“ entsprach nicht etwa
den Vorstellungen seiner Schöpfer, sondern den Zwängen der Ostblockwirtschaft:
der Blechknappheit, den Schwierigkeiten mit den Schmier- und Kraftstoffen, dem
Mangel allerstücken, und, was das Design betraf, dem zeitlosen Geschmack dieses
und jenes Funktionärs. Und eines Tages hatte der damals junge Konstrukteur die
Nase voll und ging in den Westen. Auch hier fand er nicht alles zum Besten, bis
ihm eine Schweizer Firma ihre Offerte machte. Es folgten schöpferische Jahre,
die Entwicklung und Vervollkommnung von Verbrennungsmotoren, die Arbeit führte
ihn bis Kanada. Schließlich bot die Luzerner TH eine Dozentur.
Bekannt wurden
wir miteinander, weil die Familie dem Autor aus der Heimatstadt bei früheren
Lesereisen Quartier bereithielt - die Wirtin, die seelensgute, ist
Bibliothekarin, wen wundert’s also.
Heuer bestimmt
der Blick auf den Fernsehbildschirm das Programm des nebelverhangenen
Nachmittags: Auf dem Stanserhorn steht nämlich ein Fernsehsender, dessen Kamera
nichts tut, als sich den ganzen Tag automatisch drehen, (zwischendurch läuft
natürlich Werbung) so weiß man, welche Gipfel aus dem Nebel ragen. Alle Mann
ins Auto. Sonnenschein live empfängt uns auf dem Michaelskreuz, wir stapfen
durch hohen Schnee zu einem Kapellchen, haben den herrlichen Rundblick über das
Nebelmeer, aus dem wie Inseln der Rigi, der Pilatus, das Hochplateau des Zuger
Berges, der ferne Schwarzwald lugen, und wo die gewaltige Dampfwolke des
Atomkraftwerks von Waldshut am Horizont steht wie ein weißer Pilz.
Der Professor
referiert Internes aus der jüngeren Weltgeschichte: Etwa über das
Militärgefängnis des Bundesheeres auf dem Zuger Berg, in das im
Afghanistan-Krieg von den Mudschaheddin gefangene Sowjetsoldaten eingeliefert
wurden - sofern sie die Gefangennahme überlebt hatten. Es gab eine Übereinkunft
mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, wonach die dem gegenseitigen
Morden Entronnenen einmal im Monat Ausgang nach Luzern erhielten und
automatisch nach 5 Jahren entlassen wurden. Nicht einer kehrte in seine
sowjetische Heimat zurück.
Der Professor,
bewandert besonders natürlich in Technik-Geschichte, weiß manches Histörchen
darüber, wie auch schon vor dem Sozialismus riesige Entwicklungen in den Sand
gesetzt wurden: Die Graf Zeppelin, der einzige Flugzeugträger der Deutschen
Kriegsmarine, war ein grandioser Flopp: In Stettin vom Stapel gelassen, blieb
sie liegen, eine bleierne Ente: Sie war für die eigens entwickelten und
gebauten gewaltigen Schiffsdiesel 1½m zu schmal, das merkte man erst, als
montiert werden sollte ... Sachen gibt’s, die gibt’s nicht.
Der Professor kommt
auch auf die jüngsten internationalen Vorhaltungen gegen die Schweiz zu
sprechen, ihre Kooperation mit den Nazis betreffend: Stichwort Raubgold. Zwar:
Nicht nur die Schweizer haben gekungelt. Aber da wäre die Belieferung der Nazis
mit Heeresgut. Beispiel: Die berühmte Vierlingsflak, teils direkt geliefert,
teils in Deutschland in Lizenz nachgebaut. Beispiel: Panzerwannen aus
Schaffhausen. Die Bezahlung floß in Gold - Deutschland verfügte über den
eroberten holländischen und belgischen Staatsschatz, umgeschmolzen, mit dem
Prägestempel der Reichsbank versehen.
Am Abend gibt es
Käsefondue, das angebliche ein Ur-Schweizer Zeremoniell ist: Die Senner
würfelten altgewordenes Brot, tauchten es in geschmolzene Reste des Käses, der
nicht vermarktet worden war. Verliert jemand in der Runde seinen Brotbrocken in
der Käsepampe von der Gabel, gibt es eine Strafe: Die Herren zahlen die nächste
Flasche, die Damen müssen die anwesenden Herren küssen - nach anderer
Überlieferung nur einen ihrer Wahl.
Was bei einem Käsekuß ja vielleicht auch genügt. Von den langen spitzen Gabeln
aber gerät man wieder ins Historisieren, ohne dabei das Kulinarische ganz aus
dem Visier zu verlieren:
Die Schlacht bei
Sempach 1386, der Schmied Erni Winkelried aus der Innerschweiz, der ein Bündel
Ritterspieße der Habsburgischen mit ausgebreiteten Armen umfing und so, sich
opfernd, „den Seinen eine Gasse machte“. In der Schlacht fiel Herzog Leopold
III. von Habsburg. Der Professor fügt aber hinzu, daß da einheimische
Habsburger unterlagen, keine Eindringlinge - es war eine der helvetischen
Varianten der frühbürgerlichen Revolution gegen den Feudaladel. Es gibt noch
heute in Sempach traditionsreiche „Schlacht-Treffen“, Fahnenweihen,
Brevetierungen (Verleihung von Offizierspatenten) am „Schlachttag“, wo man in
der Wirtschaft „Zur Schlacht“ eine gute Schlachtplatte bekommt.
Auch wurden bis
vor wenigen Jahren vom Sempacher Leutpriester Almosen an Arme verteilt. Dies
aber, so vermeldet ein Touristenführer, „wurde dann geändert, als festgestellt
wurde, wie besonders junge Empfänger das erhaltene Geld in Schleckwaren
umwandelten!“ Reich beschenkt mit gedrucktem Material nimmt der Gast Abschied.
Abschiedsbummel.
Zwei aus voller Kehle ein Jodellied schmetternde Punks mit Schulterstücken aus
Flaschenschnappverschlüssen durchqueren Zürichs Nobelviertel mit seinen Banken,
Rechtsanwaltspraxen, Haute Couture- und Haute Coiffure-Läden. Kasko-Reklame:
Ich bi zfriede mit dr Waadt. Der Gast strebt eigentlich in billigere
Lokalitäten, der Bahnhof soll’s aber auch nicht gerade sein, doch was sein muß,
muß sein, dezent düftend umfängt ihn endlich ein stilles Refugium. Auffällig
gleich die monströsen Maße der Bequemlichkeit: Man kann sie auf herkömmliche
Weise benützen, es gibt aber auch, per Hebeldruck einstellbar, eine Automatik:
Phase 1: Beim Niedersetzen bereits beginnt eine Ventilation zu blasen, Phase 2:
Spülung, Phase 3: Dusche, Analogie zur bekannten Unterbodenpflege, 4:
Warmlufttrocknung, dito. Der Autor malt sich schon jetzt, bei der Niederschrift
solcher Erinnerung, das brennende Interesse der Leser aus: Hat er’s ausprobiert
oder hat er herkömmlich?
Hinüber in die
alten Gassen zwischen Hirschgraben und Limmat-Quai, vorüber an Bodegas,
Pizzerias, Jeansshops, Uhren- und Stahlwarenläden, dem berühmten
Buch-Antiquariat Schulthess, einem Buchladen für Esotherisches, mit (allen
Ernstes) diesem Angebot: 1 kg Bücher 10 fr. 2 kg 20 fr. 3 kg 30 fr. usw.; man
meint, ab 3 Kilo müßte es Rabatt geben, gerade wo Esotherik doch Immaterielles
behandelt, aber nein, da steht das lineare Undsoweiter. Vorüber an den
rührenden, auf die Wände schablonierten Aufrufen zur Großdemo „gegen die
Reaktion“ (die geballte Faust in die schnöde Visage derselben fehlt nicht) und
der wohl doch etwas deplazierten Pinselei am ehrwürdigen Gemäuer des
Großmünsters: NAZIS RAUS! Im Innern herrschen Halbdämmer und Frieden, die
Kargheit der schweizerischen, der Zwingli-Reformation. Auf einem Kapitell aus
romanischer Bauzeit sieht man noch die Stadt- und Kirchengründer Felix und
Regula, Märtyrer, die nach ihrer Hinrichtung ihre abgeschlagenen Häupter
aufhoben und „30 Ellen bergan stiegen bis zu der Stätte, wo sie begraben werden
wollten“. Damit verknüpft ist die Sage von Karl dem Großen, der auf der Jagd
einen Hirsch von Aachen bis Zürich hetzte. (Etwa 600km). Über den heiligen
Gräbern brach sein Roß in die Knie, und Karl erkannte den Verkehrsunfall als
höheren Befehl, hier das Großmünster zu errichten. Beeindruckt von so viel
Leistung sagt der Gast „Uf Wiederluege!“, vielleicht im nächsten Jahr.