Im Flieger von
Heathrow nach Tokio noch einmal die Vokabeln: Ohayo gozaimasu, guten
Morgen, konnichi wa, guten Tag, konban wa guten Abend, dazu
bitte, danke, Entschuldigung, keine Ursache. Um mich herum die Kollegen vom
Sächsischen Sinfonieorchester e. V., die meisten waren schon mal in Japan,
haben Freundschaft geschlossen mit dem anderen Liebhaberorchester, dem von
Hachioji, einer Halbmillionen-Vorstadt von Tokio. Die Filme auf den Monitoren
in den Rücklehnen öden, die Füße kribbeln vom zwölfstündigen Sitzen, einige
japanische Reisende tragen die SARS-Masken, eine Omi vollführt im Gang gemessene Tai tchi-Übungen für die bessere
Durchblutung. Noch einmal der Blick in die Notizen: 1854: der amerikanische
Commodore Perry liegt mit vier
wohlbestückten Kriegsschiffen vor Edo, dem heutigen Tokio. Seine Verhandlungen
über die Öffnung japanischer Häfen für den Westhandel verlaufen erfolgreich ...
sagt da jemand, Geschichte wiederholt sich nicht? Etwas über die Schrift: Sie
stammt aus China, insbesondere die (für uns) stacheligen, eckigen Zeichen, und
bis vor Jahrzehnten konnte ein gebildeter Japaner chinesische Zeichen lesen
bzw. deuten, bis Mao tse Tung sie radikal vereinfachte. Dann gibt es die
gerundeten, geschwungenen, sozusagen weiblichen Buchstaben – das ist
Lautschrift, mit ihr werden z. B. Eigennamen wiedergegeben. - Empfang mit Rose für jeden von uns am NARITA-AIRPORT,
drei Stunden Busfahrt zum Quartier. Erste Eindrücke, kunterbunt: Die Sonne
südlich-hoch, wir sind am 36 Breitengrad, Zedern, Bambushaine, Kamelien,
Rhododendren, allenthalben die sanft wogenden Wedel des China-Schilfs, die bei
uns nur die Kleingärten zieren, man trägt vielfach Badelatschen (sind aber
keine), Socken mit eingearbeiteten Zehen, wie Handschuhe, die „Rainbow-Bridge“
ist ein mehrstöckiges Wunderwerk. Dann: Teehäuschen-Dächer, zwischen denen aus
Pflanzenkübeln sich Grün empor zwängt.
Großstadtsmog zwischen den modernen, bereits rußigen Beton-Wohnsilos,
sie tragen die Treppen außen, auch
Stromleitungen und Abflussrohre, unschön, aber sinnvoll im Katastrophenfall.
Die Architekten kaschieren den rechten Winkel durch Abschrägung, Überwölbung.
Briefkästen in der Form großer Hydranten, Wegezoll-Stationen bei Überquerung
der Stadtgrenze, wie in Frankreich. (So einfach, Herr Stolpe!) Wolkenkratzer,
Firmen: SHARP, BROTHER, BOSS, BMW. Nirgends Grafitti. Der stockende Dieselmief
im von Lärmschutzwänden gleichsam kanalisierten Highway. Unser Quartier - ein
Studenteninternat, das Hauptgebäude ein kopfstehender Pyramidenstumpf, bricht
bei Erdbeben oder Cruise Missile (man weiß heute nie) nach außen herunter,
Chance für Bewohner. Regenschirme im langen Ständer vor der Tür, Fahrräder
ungesichert, uns erwartet ein ehrliches Volk. Belehrung: Man badet zwar in der
Wanne, aber im Wasser des/der Vorbader(s), und man erwartet von dir, dass du
dich erst gründlichst schrubbst.
Abends die
Begrüßung durch den Mäzen unserer Reise: Der hochaufgeschossene, hagere Herr
Murauchi ist Besitzer mehrerer Warenhäuser, Sammler französischer
Impressionisten und unseres Bruderorchesters und eines assoziierten Volkschores
Hauptsponsor. (Solche Kapitalisten müssten in Chemnitz wohnen, aber leider, die
unseren sitzen in München, Stuttgart, Frankfurt und kümmern sich nicht ganz so
hingebungsvoll um ferne Kulturlandschaft.)- Die Bewirtung ist fürstlich, und
bald fliegt das schnell erlernte Wort gambai! durch den überfüllten
Raum, prosit, auf die Freundschaft, auf die Musik! Unser Bläserquintett
intoniert ein japanisches Volkslied (unvorbereitet, wie wir uns haben), der
Chor formiert sich rasch, Notenblätter werden ausgeteilt ...
Am nächsten Tag
Empfang beim OB von Hachioji, er trägt eine rote Feder im Knopfloch, erneut
Worte der Freundschaft, unsere Vereinsvorsitzende überbringt Chemnitzer Grüße,
wirbt wacker für Investitionen in unserer aufstrebenden Industriestadt, diesem
sächsischen Manchester, rührend, Fotos, Fotos.– Später erster Souvenirbummel
durchs Kaufhaus Murauchi: Ikea-artig, aber leerer, die VerkäuferInnen springen
hinter ihren Kassiertresen vom Stuhl, wenn ein Kunde naht, eine geleitet mich
nach entsprechender Frage durch zwei Etagen zum gewünschten Orte.
Die Abteilung
Bilderrahmen und Kunstdrucke: der große
Higashiama ist hier nicht vertreten, vergebens sucht man nach Landschaften mit
zwischen fern verdämmernden Hügeln aufsteigendem Nebel und weißem Pferd,
stattdessen findet man scharfgrell konturierte Stadtansichten aus – Paris,
Amsterdamer Grachten, die Themse mit Westminster – die Seelen-Romantik also
scheint nach Europa gerichtet, dazu zählt auch, dass sämtliche Kaufhauspuppen
„Western style“ starren, so mancher junge Mensch sich das schöne schwarzes Haar
zu blondieren sucht, wobei ein rostiges Rot herauskommt, der Gebrauch des
Wortes „cool“ unter Kindern.
Gesangsprobe –
denn wir treten auch als Chor auf, deutsch und japanisch, schrecken vor nichts
zurück, und es klingt einigermaßen, nur mit den Silben haperts, yu-yak-e
koyake no akato-m-bo, wir
bevorzugen dann doch das Englische.
Übrigens: Dialoge wie der folgende erheitern in den nächsten Tagen wohl
Gastgeber und Gäste gleichermaßen – nicht alle Japaner nämlich sprechen das
Angelsächsische fließend, von unsereinem ganz zu schweigen: „Gambai! Sing you here with?“ „Yes, I sing tenor. I have a sister in Munic.” Ah.
Munic ist from Chemnitz not so far with the car.” “Ah. Germany good cars. Volkswagen!” “Japan ooch:
Toyota, Mitsubishi. Gambai!“
Die Tage gehen im Flug: Einer heißt Disney-Sea. Also mehr ein Ausflug nach Mickeymouse-Amerika. Ein künstlicher Vulkan mit richtigem Gerumpel und echtem Feuer alle drei Stunden usw, alles blitzsauber, die Reinigungskräfte in Schneeweiß, sie fegen auch dort Bonbonpapierchen in die Klappschaufel, wo gar keine liegen, allgegenwärtige Kameraaugen überwachen offenbar nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern auch den flinken Fleiß der Angestellten.
Ein Vormittag im
Gedränge am Sensoji-Tempel im historischen Tokioter Zentrum Asakusa mit dem
berühmten Riesenlampion am Haupttor und den schier endlosen Basaren ringsum mit
Reiseschnickschnack, hier hätte Jesus aber dreingegeißelt, aber halt, bei den
christlichen Tempeln hat er’s ja auch aufgegeben. Ein Vormittag im schönen,
würdigen Lebensbaum-Park mit den Kaisergräbern, riesigen Rundkuppeln aus
Granitquadern, hier ruht auch der vorige Hirohito, der z. B. den Luftüberfall
auf Pearl Harbour (mit) zu verantworten hat und die Enola-Gay-Bombe (nicht mit)
erlitt, auch seiner Grabstatt gilt vereinzelt stilles Gebet.
Ein Vormittag
bei den Mönchen im Tempelkloster Koonji, man darf an einer Meditation
teilnehmen, Schneidersitz, Sünden werden bei dieser Gelegenheit mit bis zu 40
Schlägen mit einer Holzlatte in der Größe eines Kinderskis auf den verlängerten
Rücken geahndet, vier werden für diesmal an einem Klosterbruder exekutiert, die
Sünde bleibt ungeklärt, und der Bestrafte lacht, als er und sein Zuchtmeister
uns hinterher durchs geweihte Tor hinausgeleiten: Er hat Pädagogik studiert,
sein Kollege Chemie. Für so was geht bei uns kaum einer ins Kloster.
Was wäre ein
Reisebericht aber ohne Kulinarisches? Einmal wurden wir in einer schönen,
Gingko-gesäumten Vorstadtstraße in ein kleines Restaurant geführt, das offenbar
erste Adresse war: Alles einmal original japanisch, Schuhe aus, Kniekissen, ita
gatima, was eine Bescheidenheitsform von „ich esse jetzt“ ist und bei uns
Guten Appetit bedeutet, das Essen in schwarzen, zweietagigen Schachteln bereit,
auf jeder eine frische Orchideenblüte, Porzellanschüsselchen mit Salathäppchen,
Fischhäppchen, panierten Tintenfischringen, braungoldener Sojasoße, dazu aus
dem Lautsprecher diskreter Harfenklang. Und wenn du denkst: Gottlob geschafft!
kommt der zweite Gang: Japanische Spagetti. Sie werden kalt serviert, lassen
sich aber gut auf die verdammten Stäbchen wickeln. Tee, auch biru.
Kampai! Prost, das Bier schmeckt wie zu Hause, wird aber hier von zahlreichen,
dennoch gestresst wirkenden, stets pflichtgemäß lächelnden, geduckt huschenden
Frauchen serviert, personifizierten Kotaus, von denen man gern wüsste, was sie
daheim auf den niedrigen Tisch bringen.
Zum Nachtisch
buntes Programm, für mich das Schönste die Nummer mit den aus leichtestem
Papier gefalteten Schmetterlingen, die mittels Fächerwind wie lebendig
umherflattern, sich vorübergehend niederlassen, zum Paar finden.
Es gab dann auch
Zauberei, Tüchlein aus der hohlen Hand, Zeitung-Zerreißen und plötzlich ist sie
wieder heil usw, western style, dann eine Nummer mit Bambusjalousien, die
verschiedene Formen annehmen, die man mit Fantasie als Schiff, Dreimasterhut,
Rainbow-Bridge erkennt. Als offizieller Höhepunkt drei kalkweiß, kohlschwarz,
rosenrot geschminkte Damen unter ausladenden Ikebana-Frisuren in kostbaren
Kimonos mit Rückenrolle (wie heißen die Dinger, und welche Funktion hatten sie
ursprünglich?), mit Fächern und tragischem, maskenhaftem Ausdruck, gemessenen
Bewegungen: Geishas. Die Hauptleistung dieser Darbietung(en) vollbrachte aber
m. E. die Sängerin, die im Hintergrund neben einem Saitenspieler kniete und mit
kehliger Stimme Akrobatisches vollführte, Schluchzer, Gluckser, halsbrecherische
Koloraturen.
Am Schluss durfte man sich „ausnahmsweise“ mit ihnen knipsen lassen, wofür aber, wie zu erfahren war, Herr Murauchi, unser großzügiger und viel gefeierter Sponsor, extra in die Tasche greifen musste, bevor die Damen dann in vollem Putz in ihren ausladendenden BMW kletterten und zur nächsten MuGGe aufbrachen.-
„In Japan ist alles so klein“, spaßt der Dichter. Nun ja, die Sitze am stillen Ort sind hiesigem Gardemaß angepasst. Aber unser gemeinsames Konzert am letzten Tag – das ist „great“, das hat Dimension, Gustav Holsts „Planeten“ erschallen machtvoll, „Die Sonne tönt nach alter Weise im Brudersphären Wettgesang“. Was sonst, im Land der aufgehenden Sonne?