...und Beinbruch

Von Almaty bis Semipalatinsk. Kreuzfahrt durch Kasachstan

1.

Wir, das ist wiederum (siehe „unsere“ jüngst hier abgedruckte Türkeiserie) der Plural auctorialer Bescheidenheit, der den geschätzten Leser als Mitreisenden einzubeziehen hofft.

Wir hatten uns natürlich wieder vorbereitet, uns sechsfach impfen lassen und für alle Fälle den Hexaglot East-West II gekauft, den fixen Taschencomputer für 8 Sprachen, darunter Russisch.

Kleine Probe, wir gaben das Wort Linie ein: Tatsächlich erschien auf dem Display Kyrillisches, was schon mal beeindruckte, hier steht es in der Transskription: klast’ na podkladku. O weh! Diese drei Wörter bedeuten allerdings anderes, nämlich: auf eine Unterlage legen. Wo ist hier die Linie?

Wir probierten weiter. Schätzungsweise jede zehnte Deutsch- Russisch-Übersetzung des vielgepriesenen Geräts ist falsch. Wirverließen uns künftig lieber auf das, was uns von der Sprache aus einem früheren Leben noch im Schädel saß. Nun wollten wir etwas etwas über Land und Leute erfahren. Her also mit Meyers Neuem Lexikon aus dem Jahre 1962 - ein aktuelleres Nachschlagwerk stand gerade nicht herum, und wir meinten, die Zeit liefe in jenem Teil der Welt langsam genug. Wir lasen also unter dem Stichwort Kasachische SSR, Kasachstan: seit 5. 12. 1936 Unionsrepublik im SW des asiatischen Teils der UdSSR, 2756000 km2... 10400000 Ew.: Kasachen, Russen, Ukrainer, Usbeken, Uiguren, Karakalpaken u.a..

Das kleine „u.a“. bezeichnet, was wir später ergänzen konnten: Deutsche, Bulgaren, Juden, Koreaner, Chinesen. Die Geografie stimmt noch, die Staatsbezeichnung lautet jetzt Republik Kasachstan, und die Bevölkerung hat sich auf über 17 Millionen vergrößert.

In Frankfurt schritten wir leichten Fußes durch eine komfortable Einstiegsröhre in den Airbus, hörten Amerikanisch, Russisch und das Deutsch dreier Bundeswehrobersten. (Was wollen die denn da?) In 11000m Höhe, mit 880 km/h „over ground“ ging’s flugs über Vilnius, das Moskauer Gebiet, den Südural, den Balchaschsee nach Almaty, das wir noch unter dem russischen Namen Alma-Ata kannten. Auf den Monitoren lief Forget Paris, es gab zweimal Bordfrühstück und einmal einen heißen Waschlappen, die economy-class füllte sich mit dem Duft von Latschenkiefer-Extrakt. Nach sieben Stunden landeten wir auf rumpelnder Piste. Die Offiziere wurden von einem Kameraden abgeholt, natürlich gibt es in der Hauptstadt einen deutschen Militärataché. Langwierige Einreisekontrolle. An den Mützen der Kasachischen Genossen Zöllner - sie nennen sich noch Genossen - der rote Stern. Fünf oder sechs Taxifahrer stürzten sich auf die Gäste, und das war uns, die wir die alte Sowjetunion einst kreuz und quer bereist hatten, neu. Für uns wurde ein Schild hochgezeigt: Goethe-Institut. Serik, der Schofför, schimpfte auf die Marktwirtschaft. Weil davon nichts zu spüren sei als Lug und Betrug.

 

2. Erster Blick auf die Metropole

Fahrt durch die morgendliche Vorstadt: Über eingebrochene Betonzäune lugten die windschiefen Holzhäuschen, die von den drangebauten, drangeklebten Bretterschuppen kaum zu unterscheiden waren. Auf den Pfosten magere Katzen. Mit Strohbesen tätige Opas, Omas mit Wassereimern, in den Gesichtern selbst der kreuzenden gelben Hundchen Mißtrauen und Mißmut. An Ampeln herumstehende junge Männer, gekniffte Papyrossy zwischen den Zähnen, Asiaten, Europäer, stabil, wetterledern. Die steinerne Stadt dann - Typenbauten aus glorreicher Zeit, vor den einst mit Farbe zugetupften Souterrainfenstern Gitter in Form aufgehender Sonnen. Am Hochbau des Hotels Kasachstan ein buntes Papptransparent: KOSZ KELDINIZDER; das ist fast Türkisch: Herzlich willkommen. Kasachisch ist eine Turksprache, eine von den zwei Staatssprachen, aber nur 45 Prozent der Hauptstädter sprechen sie, und auch diese fallen zwischendurch immer wieder ins Russische.

Serik, am Steuer, gab uns diese Aufklärung in Russisch, während sein Moskvich (gesprungene Frontscheibe) Wasserschwaden aus zehnmeterlangen, motorölig-schillernden Pfützen gegen Pappelstämme mähte. Es roch nach halbverbranntem Kraftstoff der Klapperkisten um uns her: Lada, Saporoshez, militärgrüne Gasik, Wolga-Veteranen, hier und da ein blitzender japanische Geländegänger mit fettem Fahrer oder ein tiefliegender Mercedes, der langsamer als alle durch die Löcher wippte. Für den blauen Qualm entschädigte der Blick, der sich vor uns, über uns auftat: auf die ganz nahen, schneebedeckten Viertausender des Alatau-Gebirges, Ausläufer des Tientschan vor tiefem Himmelsblau.

Unser Quartier lag auf dem Leninprospekt, das Sanatorium des MWD, des Ministeriums des Inneren. Serik verhandelte mit dem Posten, wies Papiere vor. Das Tor, mit einst silberbronzierten Blechplatten beschlagen, rollte, von surrendem Elektromotor getrieben, beiseite. Der Kasernen-Eindruck verflog bald: Durch einen weitläufigen, herbstbunten Park aus lauter Apfelbäumen (sehr vernünftig) ging’s zu dem Gebäude mit theater-klassischen Säulen. Anmeldung. Zweck der Reise? Aha, Vorträge über deutsche Kinderliteratur. Beruf? Aha, Schriftsteller, ein nicht unfreundlicher Blick der diensthabenden Administratorin.

Ruhe. Im Fernsehen ein Literaturgespräch. Ein alter braver Schriftsteller (Sprung in der Lesebrille), der fortwährend Sowjetunion sagte und sich nicht sehr eilig berichtigte: GUS. Er warb für mehr Menschlichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Aha. Anschließend gab’s Werbung für Kaugummi und Schokoriegel. Danach rollten über den Bildschirm Annoncen verschiedenster Art: Kaufen Metallschrott: Panzer, Unterseeboote, Militärfahrzeuge und Zubehör. Tausche Moskvich 412 gegen hochwertiges Benzin oder Mehl. Kaufe weiße Kittel. Verkaufe Videokassetten sowie 2 l Motorenöl vaterländischer Produktion.

 

3. Deutsch in Almaty

Regen, Regen, für heute kein Arbeitsprogramm. Ein Hotel- und Schreibetag.

Im früheren Leben hatten wir mal eine Glosse verfaßt: Märchen von den Badewannenstöpseln. Da ging es darum, wie in einer Karawanserei eine Anzahl besagter Stöpsel fehlte und viel kostbares Badewasser sinnlos wegfloß, worauf von umweltbewußten Gästen die restlichen Stöpsel kurzerhand privatisiert, die Stöpselproduktion staatlicherseits angekurbelt und schließlich jeder Untertan des Reiches Inhaber gestohlener Erst- und Zweitstöpseln war. Die Geschichte spielte natürlich im nicht näher bezeichneten Morgenland, aber jeder Zuhörer (gedruckt wurde die Sache nie) wußte, in welchen „Reich“ sie spielte.

Nichts hat sich geändert. Im Gegenteil. Selbst in den ersten Hotels ist nichts niet- und nagelfest, hängt schief, schließt nicht, tropft. Verwöhnter Westpinkel? Inzwischen ja.

Der Zimmerlautsprecher funktionierte. Sendung des Kasachischen Rundfunks ins deutscher Sprache. Nachrichten. Vertrautes Gefloskel: Maßnahmen zur weiteren Verbesserung...Der Präsident empfing... Beiderseitig interessierende Fragen... Nur daß anstelle der „führenden Persönlichkeiten von Partei und Regierung“ solche aus „Politik und Wirtschaft“ getreten waren. vor allem Bankchefs, amerikanische.

Dann kam eine Übernahme von der Deutschen Welle Köln, aber es wurde nicht besser. Die Ansagen (in der Sendung für Kasachstan-Deutsche!) russisch: Neckische Liedlein zur Zither: „Du Süße aus dem Sauerland, mit Dir wär ich gern durchgebrannt...“ Süßsaure Heimattümelei. Bei vielen hiesigen Deutschen ist, wie wir später noch mehrfach feststellen durften, der Eindruck gewachsen, daß in der fernen alten Heimat Dirndl getragen und jeden Sonntag (nach der Kirche) paarweise zum Volkstanz geschritten wird.

Zum Abendbrot beim Leiter des Deutschen Kulturzentrums. Herr R. sieht die Lage positiv. Wozu braucht es im Teppenhaus Glühbirnen, wenn jeder eine Taschenlampe mitführt? Herzlicher Empfang durch die Hausfrau und Obst auf dem Tisch. Man hat sich eingerichtet, und die Wohnungen sind nicht so schlecht. Es ging nur um die defekte Heizung. Oder den Telefonstecker. Da hieß es: „Eduard fragen“. Wer war Eduard? Ein Atomphysiker aus Dubna, jetzt Hausmeister bei der Deutschen Botschaft.

Zum Abschied eine Moskauer Wochenzeitung. (Tageszeitungen erscheinen höchstens drei-, vier Mal, man abonniert sie gewöhnlich nicht, sondern kauft sie gelegentlich am Kiosk, aus Etatsgründen.) ARGUMENTY I FAKTY: Neues Bluvergießen in Tschetschenien. Überfälle auf GUS-Grenzposten an der Tadshikisch-afghanischen Grenze. Umfrage vor der Wahl: Shirinowsky zwar vor Jelzin und Gratschow, aber alle drei weit hinter Tschernomyrdin. Läßt das hoffen?

 

4. Auf nach Schymkent

Das Kino auf dem Gelände des Sanatoriums spielte nicht mehr. Dafür bot eine staatliche Firma „Kinovideoaudioservice“ ihre Dienst an. Zusätzlich, für offizielle Anlässe Repräsentationsmaterial: Tischflaggen, Wimpel, Staatshymnen. Für Veteranentreffen: Dokfilme über den großen Sieg.

Ein Kleinbus brachte uns vom städtischen Flugbahnhof hinaus zum Aeroport. Am Rand der Pistenmarkierung flöhte sich eins von den zahllosen wildlebenden Hunderviechern. Der Busfahrer, ein graumelierter Herr mit amerikanischem Eagle auf dem Jeansrücken, riß das Steuer gezielt herum. Es rumpelte nur leicht. Das Köterchen mußte nicht leiden.

Die zweimotorige Propellerveteranin AN 24 wurde noch aufgetankt: Die Passagiere warteten mit ihren Bündeln neben der Gepäckluke, ein Papa führte sein Söhnchen zum Pullern diskret in den Windschatten des vorderen Reifenpaars. Dann war alles verstaut, „Pojechali, towaristschi!“ (Auf geht’s, Genossen!) sprach der Kapitän. 700 km über Steppe, Schutzwaldsteifen, Felder.

Die Stadt Schymkent. Die Uhr eine Stunde zurück.

Im Hotel wurde ein Geldumtausch nötig. Tageskurs: 1 DM gegen 40 Tenge. (Ein Hochschullehrer verdient zwischen 2000 und 3000 Tenge monatlich. Eine Durchschnittsmiete beträgt 900, ein bescheidene Zeche im Hotel, Borstsch, Salat, Graupenkascha mit Hammel, Tee mit Zucker, schon 300 Tenge. Für den „Valutnik“ natürlich ein Klacks, für den Einheimischen, der nicht zufällig einer von den fetten „neuen Kasachen“ ist, unerschwinglich.)

Neue Kasachen? Neue Russen? Nichts anderes als der Seeräuber Francis Drake, der mit Lizenz der britischen Krone einst auf den Weltmeeren Beute machte und nicht unwesentlich zum Startkapital des Empires beitrug. Das Ganze hieß mal ursprüngliche Akkumulation, und so sollte es auch weiter heißen. Arrogante Deutsche in der GUS leisten sich einen Wortwitz: Der Jungunternehmer fliegt erst mal nach Ganova. (Hannover). Von dort überführt er sein erstes Auto.---Übrigens kommt das Wort Privateigentum ja von dem lateinischen privare, rauben.)

Gegen null Uhr erreichte uns ein Anruf, nette Stimme: „What yourrr name?“ „Pardon?“ „Ah, Pardon. I love you.“ „Hört man gern.“ „Ah, deutsch. Mädchen nicht nötig?“ Wir wollten hören, wie so was weitergeht, plauderten. Sie erklärte (nun weiter russisch) unter kicherndem Widerspruch einer mithörenden Freundin, sie sei zwanzig. Über das Preisgefüge wollte sie aber nur unter vier oder höchstens sechs Augen reden, und so wünschten wir uns gegenseitig alles Gute. Wir sahen die beiden Hübschen mit den Schmachtaugen später mehrfach in der Halle, scherzend mit den Hotelmilizionären: Sie gehörten sozusagen zum Haus. Sie zwitscherten Kasachisch, und nur einmal verstand ich ein Wort: damskaja sumka, Damenhandtasche. Unser Thema in dieser Stadt war natürlich ein gewichtigeres: Mittelasien ohne Grenzen für Sprachen und Kulturen, Hochschulkonferenz.

 

5. Begehrte Güter

Fußmarsch zur Akademie der Pädagogischen Wissenschaften im Taute-Chan-Prospekt. Schon in Almaty war uns öfter die dichte Schar vorwiegend männlicher Passanten an zentralen Ampelkreuzungen aufgefallen. An gewöhnlichen Werktag-Vormittagen. Hier merkten wir, daß sie auch bei Grün stehen-, bzw. auf ihren Haxen hockenblieben. Und eben keine Passanten ware, sondern Menschen, die nichts taten als gucken. Nicht die Ehrenhaine mit den von Granitsockeln aufsteilenden Düsenjägern, nein, die löcherigen Asphaltpisten, auf denen die neuen Sehenswürdigkeiten der Firma Toyota kreuzen, sind die öffentlichen Plätze. Die Armut drückt die Nase platt am Schaufenster einer zutiefst asozialen Marktwirtschaft.

Aber wem erzählen wir das. Ach, wir haben keinen Grund, deutsch-ironisch zu werden.

Die Konferenz versammelte im ungeheizten Saal Deutschlehrer aus dem ganzen Land, und schon das gegenseitige Kennenlernen war eine Kulturtat, denn mancher hatte vier Tage für die Anreise gebraucht. So groß ist das Land. So selten ein Zuganschluß. Sie berichteten über den gnadenlosen Verdrängungswettbewerb mit ihren Englischfachkollegen. Über die Schwierigkeiten bei der Bücherbeschaffung. Sie sprachen ein seltsames, hundertfünfzig Jahre altes Deutsch und schwärmten von Novalis.

Nach dem Gastvortrag des Schriftstellers aus Chemnitz, der mit herzlichstem Händeschütteln belohnt wurde („Mein Herr! Ihre Gedichte spenden Segen für die ganze Menschheit!“) fehlten von seinen ausgestellten Büchern 3. Sein beschwörender Appell, daß die Sachen für weitere menschheitsbeglückende Autritte noch gebraucht würden, fruchtete nicht. Aber am nächsten Tag lagen auf seinem Platz 2 hübsche Messingarmreifen mit Volkskunstmotiven, 1 silberner Ring und 1 nationales Heldenepos in einer kunstvoll illustrierten Ausgabe.

Am Nachmittag ein Bummel durch das Zentrale Kaufhaus ZUM. Das Angebot hatte sich im Vergleich zu Sowjetzeiten tatsächlich verbessert. Schnickschnack, Tic tac, Snacker, Cracker, Pullis, Coca-Cola, Deo-Spray, Kassetten des beliebten Sängers Michail Schufutinski. Übrigens alles in der gleichen Abteilung. Und in der nächsten wieder.

Es gibt aber auch an wirklichen Gebrauchsgütern mehr als früher. Bosch. Rowenta. Die Regale stehen voll. Weil niemand kauft.

Die Verkäuferinnen sitzen hinter den Auslagen. Wir trugen ein Anliegen vor. Eine erhob sich, vor Verwunderung mürrisch, und nahm für uns das Vorhängeschloß von der Kasse - zwei Stunden vor Ladenschluß. Jawohl, es gab Klopapier, bloß nicht gerade immer im Hotel. Es reißt übrigens beharrlich in Längsrichtung.

Wie kommen wir bloß von der abhandengekommenen Weltliteratur auf dieses Thema? Nein doch, sie werden die Bücher als Lesestoff für ihren Unterricht brauchen. Novalis - Saalmann, der große Sprung, die Wende im Deutschunterricht.

 

6. Turkestan

Kuriose Mittagsschließzeit der Filiale der 137. Apotheke im Hotel: 13.00 bis 13.48. Aber wir würden ja heute keine Medizin brauchen, gesund und munter, wie wir waren. Heute war eine Busfahrt vorgesehen in die alte Stadt Turkestan.

Die 170 km weite Tour kostete pro Teilnehmer 600 Tenge. Für uns 15 DM, für die einheimischen Konferenzteilnehmer ein viertel ihres Monatsgehalts. Trotzdem war der Bus voll, denn Turkestan ist, so hieß es, ein Kulturereignis, ein Wallfahrtsort, und noch keiner von uns war dagewesen.

Zuerst kehrte der Bus noch einmal im Depot ein. Irgendwas klapperte ungewöhnlich. Die Sache war in einer halben Stunde behoben: Aus dem Ersatzteillager, genauer, einem der zehn räderlosen, in Reih und Glied abgestellten Wracks im Zentrum des Geländes wurde das benötigte Teil herbeigeholt. Die Businsassen lauschten mit sachkundkigen Kommentaren der Reparatur da unten: Ein paar Hammerschläge noch, das Ding saß.

Und wir brummten durch Getreidesteppe. Die noch belaubten Grünstreifen entlang der schnurgeraden Chaussee boten Mensch und Tier Schutz vor der südlich-hohen Sonne. Weißbärte in hohen Hüten aus weißem Filz hockten reglos auf ihren Fersen, schwarzköpfige Bürschchen winkten, in den flach sich streckenden Ortschaften stand, rüstig ausschreitend, hie und da noch ein Lenin. Und Omas saßen auf Stühlchen und boten in randvollen Säckchen Semetschki feil, Sonnenblumenkerne. Dazu ein Fläschchen Motorenöl, Zigaretten und Transistorbatterien. Ein Buswartehäuschen war zugewachsen, darin graste ein Esel. Immer wieder bremste der Fahrer vor freilaufende Kälbern, Pferdestuten mit Fohlen, Maultieren, Kamelen.

Baumwollfelder, die Flocken wie Blüten. Und unser Reiseleiter verwies auf Grünes im Hintergrund: Hanf. Für medizinische Zwecke. Das Grün zog sich hin. Ein muselmanischer Friedhof mitten in der Steppe: Kleine Mausoleen.

Ein Mausoleum mit majestätischer blauer Kuppel war das eigentliche Ziel unserer weiten Reise. Turkestan: Am Stadtrand das Grabmal des Dichters Hodsha Achmed Jasawi. Es ähnelt dem Bibi Chanim in Samarkand (dies für Eingeweihte), denn mehr können wir nicht melden: Es stand unter Gerüst und wurde renoviert. Herrliche Mosaiken in brillanter Glasur, unnachahmliche Ornamente von Meisterhand, kein Motiv dem anderen gleich, umspannten das unschätzbare Kleinod aus Tamerlans Zeiten, das Auge erfreuten Friese... Ach so. Auf den Gerüsten frühstückten beinebaumend, kopftuchbedeckt, Restaurateure einer türkischen Firma. Wir gingen aber dann doch eine Stunde umher, fotografierten eine Katze und dann das Ganze und stiegen wieder in unseren Bus. Was dies alles mit der 137. Apotheke in Schymkent zu tun hat? Der Zusammenhang ist wohl ein poetischer, man sollte da nicht grübeln.

 

7. Bei den Nachbarn

Der Exkursionen nicht genug, heute ging es nach Taschkent, Usbekistan. Diesmal war die Fahrt nicht ganz so weit, der Bus ein Ikarus ohne auffällige Nebengeräusche. Wir sahen eine neue Art von Tankstellen, sozusagen rollende. Es waren die kleinen grünen Armeetankwagen, wir kannten sie noch, mit der weißen Schrift OGNEOPASNO, feuergefährlich. Die hatten mitnichten ausgedient, arg verbeult nur parkten sie am Straßenrand, und der Tankwart winkte mit der Zapfpistole. Hier ist es billiger als an den staatlichen Stationen, quasi ein Verkauf „ab Lager“. Die Sache gilt als „halblegal“, und die Miliz läßt sich da auch betanken. An solchen Stellen hat sogar gelegentlich ein BUFETT eröffnet: Pelmeni, Piwo. Ein Plätzchen für kleines Business, ein Zigarettchen...

Die Landschaft wurde üppiger, Kohlfelder, schon enthauptet, Apfelplantagen. Ziegen, Schafe, Kamele. Die Staatsgrenze mitten durch ein Dorf. Der Bus stoppte unter einem aus hellgrün getünchten Triumphbogen mit den befreundeten Flaggen. Lebhaftes Markttreiben wogte nahebei, das Währungsgefälle nutzend: 1 Dollar - 62 Tenge - 40 usbekische Sum. Der fliegende Geldwechsler bediente uns noch vor den Grenzern. (Die nur abwinkten, man wußte auch nicht, welche es waren, denn sie trugen alle noch die Sowjetuniformen.)

Taschkent. Ein Moschee-Neubau, ein großes westliches Tivoli: Riesenrad, Achterbahn, Disneyland. Ein Bankhaus, Glas und Marmor, wirkte noch etwas fremd. Über dem Zentralmarkt hing eine Wolke aus Schaschlykrauch. CHUSZ KELIBSIS, WILLKOMMEN: Granatäpfel, Dill, Birnen, Pyramiden aus getrockneten Quarkbällchen, gedopte Truthühner dem Kunden zuplinkernd, Hammel, Rind, Melonenberge, der Orient duftete mit tausend Gewürzen. Klempner-, Malerbedarf, deutsche Bezeichnungen: ZINK-WEJS, NITRO-LAK, BEJZ. Unterschied zum türkischen Basar: Kein Anriß. So weit sind wir noch nicht. Uns wurde bewußt, wie abgezehrt „drüben“ die Kasachen und Kasachinnen wirken; hier glänzte unter den viereckigen Tjubetejkas öfter mal ein rundes, blankes Männergesicht, wölbte sich’s weiblich unter losen, farbigen Baumwollchalaten. Natürlich läuft nicht jedermann in Nationaltracht herum, eine Dame in chicer Lederjacke (Leder ist in) trug ein Rhesusäffchen auf dem Arm.

Die Hauptattraktion aber war der Marktzirkus. Eine Klarinette näselte, ein Kraftmann hantelte, und mit Stentorstimme, unterbrochen vom Clown, der dafür klatschende Ohrfeigen einfing, verkündete der Direktor die Glanznummer: Mit erhobenen Handflächen Allah um Beistand für das Gelingen anflehend (Der weite Ring des Publikums tat mit) rief er einen barfüßigen Knaben heraus, der von einem Stuhl in einen Berg Scherben hüpfen sollte. Vorher aber waren die Leute gebeten, dem Mutigen ein Küßchen zu geben und ihm ein paar Som dazulassen. Das taten alle: Hier hat man füreinander was übrig.

 

8. Noch mal Taschkent

Früher mal waren wir in dem Park zu einem Marx-Monument geführt worden. An seiner Stelle erhob sich jetzt auf bronzenem Streitroß Timur, Tamerlan, der grausamste Eroberer des Mittelalters, der Pyramiden aus Menschenschädeln hinterließ. An der Stelle des Philosophen steht also nun der Barbar, Usbekistan liegt voll im Welttrend. Am geografischen Ausgangspunkt seines Wirkens ist Timur die Lichtgestalt, die eine Welt von der Finsternis bezwang, der Förderer der Dichtkunst, der Baukunst, der Religion, dabei ein Ausbund an Bescheidenheit. Eine freiwillige Stadtführerin wußte für letztere ein Beispiel: Als er starb, befahl er, seine Asche in den Steppenwind zu streuen, daß niemand je an seinem Grab trauern sollte. Eine andere freiwillige Stadtführerin erzählte eine halbe Stunde später, daß man, als man 1925 sein Grab entdeckte, hier eine starke Magnetanomalie feststellte: Der Kompaß kreiselte. Deshalb vermutete man in der Tiefe einen mächtigen Eisensarkophag. Als man aber grub, war der aus Marmor - die Strahlung kam aus dem Innern - Timurs Gebeine besaßen solche polarisierende Kraft. Geöffnet wurde der Sarg im Jahr 1941, uneingedenk einer alten Prophezeihung, einer Warnung an etwaige Grabschänder. Und just an diesem Tag marschierte Hitler ein...

Keine Prophezeihung warnte vor dem schweren Erdbeben von 1966. Wir haben keine Statistik, wissen nur, daß außer den tausenden unmittelbarer Opfer auch eine unverhältnismäßig hohe Zahl Retter mit dem Leben bezahlte - einfach wegen des Fehlens von Räumtechnik. Damals verlor Taschkent auch fast die gesamte historische Bausubstanz. Eine Medrese, Priesterschule, blieb erhalten, und gerade als wir sie betraten, sang der Hodsha aus mächtigen Lautsprechern. Vor Jahren gab es das öffentliche Gebet nicht, und auf dem Stundenplan stand auch das Fach Marxismus-Leninismus. Auf verschlungenen Pfaden marschiert der menschliche Fortschritt.

Auf der Rückfahrt nach Schymkent fuhren wir ein paar Dutzend Kilometer auf der alten Seidenstraße (von Europa nach China), parallel zu ihr schwangen sich - Applikation der Neuzeit - vier Telefon- bzw. Stromleitungen. Stellenweise hingen abgefaulte Masten in den Drähten, und die noch standen, torkelten wie Wäschestützen. Wir waren wieder in Kasachstan. Die Abendsonne zeichnete weichgeschwungene Schattenkonturen in die hügelige Steppe, das verleitete die poetischen Gemüter unserer Reisegesellschaft zum Singen. Sie waren ja allesamt Deutschlehrer, und da fiel ihnen, wie passend, das Lied von lieben Augustin ein. Schwierigkeiten ergaben sich, als die Handvoll Mitreisender aus Deutschland aufgefordert wurde, ihrerseits etwas „typisch Deutsches“ zu bieten. Sie konnten sich nicht einigen: die einen wollten „Guten Abend, gut’ Nacht“, die anderen „Laurentia“. Who is who. Etwas dünn erscholl dann: ...Wiesengrunde...Heimat Haus...

 

9. Übers Fluchen

Wir haben das schon bei Reisen in anderen ehemaligen Trabantenrepubliken der Sowjetunion sagen hören: Selbst wer die Nationalsprache sicher benutzt, schimpft und flucht russisch. Und was es da für Flüche gibt! 1945 haben die ostdeutschen Knirpse einen davon kolportiert, als ihre erste Vokabel, und wie wir uns erinnern, in dem festen Glauben, dies sei nun das Russische schlechthin. Solche siebenetagigen Mutterflüche (semietashnye maty) sind Gegenstand sprach-soziologischer Untersuchungen, sie zeugen vor allem von Frust und sexueller Not von Soldaten und Gefangenen. Frauen fluchen seltener. Hier erzählte mir eine, daß jetzt in Litauen russische Schimpfwörter in öffentlichen Verkehrsmitteln mit Geldbußen belegt werden.

Aber wir wollen ja aus Kasachstan berichten. Rückflug Schymkent - Almaty. Uns ging noch eine Erzählung im Kopf herum von dem Deutschstämmigen Viktor R., der eines Tages die Marktlücke an weißen BMW bemerkte. Die werden nämlich bei den „neuen Kasachen“ als Hochzeitsautos geschätzt. Und obwohl er die Kutschen legal importierte, wurde er selbst bald eine „neuer Kasache.“ Oder ein „neuer Deutscher? Viktor ist ein harter Bursche: In seinem Handschuhfach finden sich für jede Eventualität: 1 Flasche Jonny Walker, 1 Revolver, 1 Paar Handschellen, 1 Parfümspray.

Zur Rechten, in Höhe der Tragfläche, weiß, der Tientschan.

Zu unseren Häupten schaukelte in der Kabinenverkleidung der AN 24 B eine lange Senkkopfschraube, schaukelte und fiel heraus. Wir hoben sie auf, reichten sie dem Steward, der steckte sie ein und sagte höflich okay. Kein Fluch sprang über seine Lippen.

Bei der Ankunft wollten uns die Uniformierten nicht durch die Sperre lassen. Das Visum, vom Bonner Konsulat ausgestellt, galt nur für Almaty. Schymkent sollte uns 100 Dollar schtraf kosten. Wir hatten aber noch vier andere Städte im Reiseplan - sollten wir jedesmal... Achselzucken. Wir konnten ja beim Innenministerium weitere Anträge stellen. Bearbeitungszeit zehn Tage. Sie ließen uns aber dann passieren: wir sollten beim endgültigen Heimflug dann alles zusammen bezahlen.

Wir schimpften auf die alte Bürokratie, wissend, selbst ein „Siebenetagiger“ hätte hier nichts extra gekostet. Und bekamen sogar die offizielle Begründung für die (neue) „Sicher-heitsmaßnahme“: Kasachstan werde von illegalen Einwanderern aus China überschwemmt, von chinesischen Kasachen, deren es mehr gebe, als die Republik Einwohner hat.

Diese Übersiedler! Diese Wirtschaftflüchtlinge! Am Ende werfen sie sich auf den Import von Hochzeitskutschen. Sie sprechen ein reines, akzentfreies Kasachisch, und daß sie (vermutlich) nicht russisch fluchen, entlarvt sie nicht hinlänglich. Sei dem, wie dem sein. Die neue Völkerwanderung beginnt jedenfalls weiter östlich, als man in Europa glaubt.

 

10. Staat und Gesellschaft

Die ewigen Flamme brannte, und möge sie ewig brennen. Das Memorial für die Gefallenen des zweiten Weltkriegs, der hier kurz „Großer Vaterländischer“ heißt, wird von Mütterchen besucht, die sich weinend bekreuzigen, auch ein paar Blumen hinlegen. Ein Stück weiter sahen wir eins davon wieder - es bettelte im Verein mit einem Dutzend Leidensgefährten, Greisen, Krüppeln, „Bomschs“ (Obdachlosen) vor der Auferstehungskirche, wo gerade ein Brautpaar mit zahlreichem Gefolge sich den Videokameras präsentierte. Die Braut - eine Blüte in fliederfarbenem Tüll, der Bräutigam hing an ihr als blanker Käfer. Der Weg war übersät mit Rosenblättern, zwei geschmückte weiße BMW warteten mit diskret surrenden Motoren - Hier die Upper ten, da die Kirchenbettler - vor Gott vielleicht, vor der Kirche sind nicht alle Menschen gleich. Drinnen brannten tausend Kerzen, an der Wand hingen die schriftlichen Gesuche an Unseren Herrn Jesus Christus, die Muttergottes von Smolenks und an Nikolai, den Wundertäter - um Heil und Rettung der Heimgegangenen Galina, Makar, Sergej usw. Hier ist Almaty ganz russisch. Auch in den Grünanlagen ringsum: Ein Großvater mit Kriegsorden auf schlotterndem Jackett improvisierte auf der Harmonika, ein Pferdchen unter hohem Joch zog einen Landauer voller Haarschleifenmädchen, die Knaben versuchten sich auf dem Skateboard. Frieden, Freundlichkeit, Elstern.

Am Abend kutschierten wir mit einem freundlichen Begleiter - wir sagen aus Gründen der Geheimhaltung nicht, mit wem - ins nahe Alatau. Innerhalb einer halben Stunde schraubten wir uns in 2400m über NN, passierten das MEDEO, das höchstgelegene Eisstadion der Welt, fühlten uns auf einmal in der Schweiz. Der Landrover mußte runter auf den zweiten Gang, aber dann war es geschafft: Ein Restaurant am Fuße des Skilifts, schon mitten im Schnee. Wir aßen das Solideste, das man bekommen konnte, Nudelsuppe mit Brot und Tomaten, hinterher Tee mit Konfekt, hörten aus dem unvermeidlichen Lautsprecher unvermeidliche Hits: Ein-zwei, Polizei, drei-vier, Grenadier...

Apropos Grenadier. Unser freundlicher Begleiter wußte ein bißchen was über Staat und Gesellschaft. In der Kasachischen Armee, besonders in den Grenzregionen, dienen weiterhin russische „Militärberater“. Es gibt keinen Wehrersatzdienst, aber man kann sich drücken, etwa, wenn man der Sohn eines Ministers ist - dann wird man zur fraglichen Zeit zum Studium nach London geschickt. Die Sowjetuniformen sollen nach und nach ersetzt werden - in der Zeitung hat gestanden, Deutschland leiste da uneigennützige humanitäre Hilfe - zunächst mit zehntausend Uniformen aus Beständen der Nationalen Volksarmee. Beim letzten Verfassungsreferendum gab es 99% Ja-Stimmen, das Parlament ist zur Zeit aufgelöst und Präsident Nasarbajews Amtszeit wurde bis 2000 verlängert. Er heißt übrigens mit Vornamen Nursultan.

 

11. Kulturnotizen

Es nahte der Unabhängigkeitstag der Republik Kasachstan. Grund zur Selbstbesinnung der Nation. Neben den alten Plakaten: GENOSSEN! BEACHTET DIE STRASSENVERKEHRSREGELN! oder: GETRREIDE - REICHTUM DES VATERLANDES! neue: 150 JAHRE ABAI! Der Dichter Abai (1845-1904), eigentlich Ibrahim Kunabajew, ist der Nationalklassiker, und sein Porträt hängt vielerorts neben dem von Goethe: Abai hat nämlich „Wanderers Nachtlied“ übertragen. Übrigens gibt es von ihm auch Schiller- und Byronübersetzungen und natürlich viel Eigenes, das wir nicht kennen. Immerhin: Wir möchten mal daheim - (und sei es neben einer Snicker-Snacker Werbewand) das Bildnis eines Schriftstellers sehen - es müßte nicht gleich das eigene sein.

Zeitgenössisches Schrifttum bot die Wochenpresse. Hervorzuheben die Zeitung KARAWAN, ein wirklich gut gemachtes Blatt, in selbstironisch-witzigem Ton und in der Themenwahl den besten Ausgaben des alten „Krokodil“ vergleichbar. Kleine Kostprobe? Unter der Überschrift: Puste, mein Täubchen finden wir die Mitteilung, das die Zahl der Unfalltoten im Kombinat „Karagandakohle“ sich innerhalb eines Jahres von 35 auf 14 verringerte. Nämlich, seitdem man in die Alkoholkontrollen am Arbeitsplatz auch die Leitung einbezog... KARAWAN schildert Fälle millionenschwerer Korruption auf höchster staatlicher Ebene, hat natürlich auch seine Horror- und Sexseite, ohne die es nirgends mehr geht, und eine niveauvolle Witzecke. Spezialität: Judenwitze. Aber hier gibt es keine Ressentiments, und die alten Rebbes setzen allemal scharfsinnige Pointen. Und natürlich gibt es zehn Seiten Reklame: Hier liest man schon viel lateinische Schriftzüge: DAEWOO, XEROX, SAMAMANDER, daneben die Mitteilung über den Ausverkauf von Schulheften und Streichhölzern.

Noch eine Kulturnotiz, diesmal aus dem Nachbarland China: Ein Kollege, der dort jüngst offiziell eingeladen war, in einem Pekinger Fußballstadion bei einer Massenerschießung anwesend zu sein, berichtete, daß das vieltausendköpfige Publikum nach vollbrachter Show begeistert applaudierte, und zwar offenbar freiwillig, um dann ohne zu randalieren die Busse zu besteigen...

Diesen Abend Vortrag in der Weltsprachenuniversität: Hinterher detaillierte Fragen der Deutschstudenten: Wie wird es uns in Deutschland ergehen? Eine Vielzahl von ihnen studiert die Sprache eigens, um wegzukommen. Denn selbst wenn sie es hier bis zum Hochschullehrer schafften, würden sie doch nur 1/4 eines Busfahrergehalts, 1/10 des (tarifmäßig versprochenen, wenn auch oft monatelang nicht ausgezahlten) Bergarbeiterlohns beziehen. Wir sagten, was von unserem „Absender“ erwartet wurde: Deutschland sei nicht das Paradies. Sagten es mit voller Überzeugung, aber während der Veranstaltung fiel drei Mal der Strom aus, und unsere Worte versickerten im Dunkeln ohne Mikrofon.

 

12. Nach Karaganda

Schnelle Post: Bei der Abfertigung am Flughafen werden Mitpassagiere angesprochen, ein Päckchen mitzunehmen, um es am Ziel zu übergeben: Der Empfänger sieht so und so aus... Dem Flugzeug voraus eilt dann das telefonische Signalement des Überbringers. Das funktioniert auf allen Binnenstrecken, auch bei Bus oder Bahn.

In der Maschine war es bitter kalt. Karaganda: brettflaches Land, Baukräne spießten reglos in den Schneehimmel. Der Moskwich-Fahrer der gastgebenden Uni (die Fahrer sind die informiertesten Gesprächspartner, alle tief verbittert), erzählte, daß auch hier die Kräne seit zwei Jahren so reglos stehen. Daß die Hälfte der Kohlenzechen, das Süßwarenkombinat zugemacht haben. Die Stadt, 1936 straff rechtwinklig angelegt, hat kein Zentrum, besteht aus öder Sowjetarchitektur, durch die sich nun tiefe Risse ziehen.

Mittags in der Hotelstolowaja eine Gruppe junger Banditen, Nachfahren der bekannten Farzowstschiki (Touristen-Anmacher), die uns sogleich in ihre Saufrunde einzubeziehen hofften, indem sie jeder einen Tee spendiert haben wollten. Wobei sie sich über das Wort Tee kaputtlachten. Nachmittags wieder Auftritt vor Hochschullehrern. Sehr hinderlich dabei das Fehlen der bereits in Schymkent gestohlenen Bücher und Tonträger, wir hatte nicht recht was vorzuzeigen. Danach das Njemezki Kulturnyj Zentr Wiedergeburt. Herzlicher Empfang bei den Großmüttern und Großvätern, die gerade einen der ihren, Rudolf Gansowitsch, nach Deutschland verabschiedeten. Er hatte glücklich den Sprachtest bestanden, der durch deutsche Botschaftsangehörige abgenommen wird: Er mußte auf deutsche Fragen nach Namen, Alter, Familienstand deutsch antworten, ein Gedicht oder Lied vortragen und zwei oder drei nationale Küchenrezepte vortragen. Nun saßen sie noch einmal beisammen, tranken den Posaschok, sangen „Schön ist die Jugendzeit, sie kommt, sie kommt nicht mehr“ mit 25 Strophen und auch das Landserlied „Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren“ wobei sie sich beim Tschingderassa, bumderassa bum ordentlich ins Zeug legten, und waren - traurig.

Dann trat der Dichter Adolf Pfeiffer auf, las deutsch ein sehr schön gebautes, langes Gedicht: „Ein Hundeleben“, das von seinen Jahren in der „Trudarmija“, der „Arbeitsarmee“ unter Stalin handelte. Er selbst war zweimal zum Tode verurteilt, wurde zu zehn Jahren „Karlag“ (der Lagerkomplex bei Karaganda) begnadigt. Ihm half, daß er schrieb und Mandoline spielte, was ihn für die Lagerleitung brauchbar machte. Andere wurden systematisch totgehungert, zwischen den Baracken erschossen. Es gab nie eine materielle Rehabilitation. Die Davongekommenen tragen Panzer aus verkrustetem Haß. Noch lange, nachdem die anderen Gäste gegangen waren, saß der alte Herr, tremolierte uns was auf seiner zerkratzten Mandoline vor und ignorierte das Schlüsselbundgeklapper der Leiterin des Zentrums.

 

13. Unter anderem: Kokoskuchen

Noch einmal Karaganda. Es war bisher überall das Gleiche - jeder Besuch begann mit langem Gefloskel beim Direktor, Lehrstuhlleiter, Vorsitzenden. Selbst im Deutschen Kindergarten kam ein Blick auf die Kleinen erst an zweiter Stelle. Aber dann war es sehr niedlich, sie sangen „Grjun, grjun, grjun sind alle meine Farben.“ Die Einrichtung war - mit bundesdeutscher Hilfe- recht gut.

Dann noch einmal in der Uni. Der Chef erhob uns in seiner Vorstellungsrede zunächst in den Professorenstand, nannte uns Dichter, Komponist, Sänger. Nach dem Auftritt gab es ein offizielles Mittagessen. Als er hörte, daß wir aus dem früheren Karl-Marx-Stadt kämen, erglühte er. Er hatte in Oberlungwitz bei der Panzerreparaturbrigade als Kraftfahrer gedient, erhob das Glas auf die DDR und verweilte lange beim Ruhm jenes Kokoskuchens, den er jeden Tag beim dortigen Bäcker, nicht weit vom Kasernentor, gekauft habe. Die Bäckerei, falls es sie noch gibt, sollten wir schön grüßen. (Was hiermit geschieht.) „Wenn wir erst“, rief er, „unser vaterländisches Mehl für solchen Kuchen verwenden werden...“ alle taten ihm Bescheid.

(Auf den Korridoren, im ganzen Unigebäude lief gerade die Winterfestmachung, ein Arbeitseinsatz der Studenten. Von alten Bettlaken gerissene Streifen wurden in Mehlkleister getaucht und mit Löffelstielen rundherum in die Fensterritzen gedrückt.)

Der Herr Direktor war einer von altem Schrot und Korn: wsjo budjet, alles wird gut. Er berichtete allen Ernstes von einem neuen Verfahren an den Kliniken im strahlenverseuchten Semipalatinsk, mit dem man „Geschwülste“ einfach „einkapseln“ könne, daß sie nicht weiter wachsen. Das Verfahren sei bereits international patentiert und werde demnächst weltweit angewandt. Nun, eine Klinik in Semipalatinsk würden wir demnächst selbst noch kennenlernen.

Doch heute nachmittag ging es erst mal nach Akmola, dreihundert Kilometer nach Nordosten. Die Fluglinie war eingestellt, der Bus gut besetzt, die Leute hatten schon die Pelzmützen vorgeholt. Halt an einer GAI (Zivile Auto-Inspektion): Miliz, die MPi vor der Brust, kontrollierte - nur die Frauen. (Die Männer kennen wir schon, hieß es.) Uns war schon das Herz in die Hose gerutscht, denn wir hatten weder ein Visum für Karaganda noch eins für Akmola. Aber es wurden bloß Ausbrecherinnen gesucht.

Auf der Weiterfahrt Zeitungsstudium - die Blätter werden hin- und hergeborgt, auch Bonbons angeboten. Ein Blatt, das das ganze Land schon seit einer Woche las, war uns bisher nicht in die Finger geraten: die KRIMINALNAJA CHRONIKA. Fotos, Pornografie des Grauens: Ein Kinderleichnam, der 4 Wochen in einen Teppich gewickelt war. Ein Privatgefängnis, das ein Mafia-Chef im Keller eines normalen Mietshauses für seine Schuldner einrichten ließ: schalldicht. Wer hier wieder rauskam, bezahlte bestimmt, und wenn er dafür zum Mörder werden mußte.

 

14. Die künftige Hauptstadt

Akmola. Die Vorstadt war noch verslumter als alles zuvor Gesehene. Das Hotel unerwartet gut, Blick aufs Lenindenkmal. Die aushängenden Abgabezeiten für warmes Wasser wurden eingehalten. Die Kellnerin präsentierte die Rechnung noch auf der guten alten Stschoty, der Kugelrechenmaschine - im allgemeinen hat doch schon der Taschenrechner gesiegt. Diesen Abend aber waren wir zu Gast bei Familie Bishkenow. Die Wohnung war gemütlich, mit Teppichen an der Wand, ganz asiatisch. Der Tisch bog sich unter Salaten, Plow, Früchten, Dessertwein, Wodka. Die Hausfrau legte tüchtig vor, der Hausherr goß nach, und die sieben oder acht Anwesenden wurden der Reihe nach zu Trinksprüchen verdonnert. Wenn wir da jedesmal leergetrunken hätten... Herr Bishkenow ist leitender Ingenieur in einem Betonplattenwerk, das noch produziert. Nicht für den Städtebau - da ruht die Arbeit seit Jahren. Aber ländliches Bauen bringt noch den und jenen Auftrag. Die Plattenbauer liefern ihre Produkte per LKW und laden als Rückfracht gleich die Bezahlung auf: Getreide, Gemüse, lebende Tiere. Wobei die Sowchosen nicht selten ihre Grundfonds angreifen: Saatgut, Zuchtvieh. Die Betonwerker schlachten zweimal im Monat. Lohntag ist Fleischtag.

Akmola soll Hauptstadt werden. Der regierungsoffizielle Grund ist, daß es zentral liegt. Aber in unserer Runde wurde ein anderes Argument gehandelt: Almaty berührt fast die chinesische Grenze. Und man traut dem sozialistischen Nachbarn nicht. Schon jetzt sickern dortherum in die von auswandernden Deutschen und Russen ausgedünnten Siedlungen chinesische Staatsbürger nach. Wieso wandern auch Russen aus? Und wohin? Antwort unserer fröhlichen Runde: Nach Rußland, weil sie ethnische Konflikte heraufziehen sehen. Präsident Nasarbajew verlangt jetzt von jedermann die Kenntnis des Kasachischen. Solschenyzin, das „Gewissen Rußlands“ hat kürzlich Petropawlowsk im Norden als „russische Erde“ bezeichnet. Schon kloppen sich in den Grundschulen die Nationalitäten. Die Welt ist aus den Fugen, da waren wir uns einig. Prost.

Am anderen Morgen - Seltenheit auf der bisherigen Tour des Kinderbuchautors - Auftritt vor Schülern. solchen mit verstärktem Deutschunterricht. Viele blasse Kinder, mit Augenringen. Die Lesung war fast nur in Russisch möglich, zum Glück waren wir nicht unvorbereitet. Und was das Wort nicht vermochte, schaffte die stets bereite Posaune, und am Ende fanden wir kein Ende. Mit lahmer Autogrammhand, unter Winken und gegenseitigem Fotografieren nahmen wir Abschied. Fragten, wieder in Gedanken bei der nächtlichen Diskussion, fragten die uns begleitende Frau Dozentin Bishkenowa, die für unsere Begriffe aussieht wie eine Diva der Pekinger Nationaloper: Wie man denn beispielsweise Kasachen und Chinesen optisch unterscheiden könne? „O, auf den ersten Blick!“ entgegnete sie. „Die Chinesen haben Schlitzaugen.“

 

15. Mit der Eisenbahn nach Pawlodar

Viele Fluglinien sind eingestellt, aber Busse und Züge verkehren einigermaßen pünktlich. Eine neunstündige Zugfahrt ist natürlich ein Tagesprogramm. Man wird von der diensthabenden Wagenverantwortlichen plaziert, macht sich bekannt. Unsere Abteilgenossin war eine rundliche Muttel in Pantinen und Kittelschürze, die gerade Tee trank und uns Schokoladenbonbons anbot. Rachmet, danke! Dann machte sie sich lang, bedeckte sich züchtig und schnarchte eine Runde. Über Zugfunk lief Techno, draus-sen begann die Steppe sich zu kräuseln zu sanften, grasbewachsenen Hügeln, zwischen denen Telegrafenmasten einherhinkten, und auf den Gipfeln saßen, wie kleine Burgen, Häuflein verwitterter Felsbrocken: ein Rumpfgebirge am Ende. Halt in Ermentau. Ein Kaukasier kam ins Abteil, er schüttete uns aus einem Tütchen Sonnenblumenkerne in die hohle Hand. Diskret verbargen wir, daß wie die Kunst, sie per Zahn zu knacken, nicht beherrschten und das Gute mit den Spelzen zusammen ausspucken mußten. Später, in Ekibastus, stieg der Zugrevisor zu. Er war, wie er mehrfach betonte, der Vorgesetzte aller hier. Und siehe, es stimmte, die Wagenschaffner machten ihm der Reihe nach ihre Aufwartung. Es wurde golden gelächelt, und uns wurde bewußt, daß uns das viele Zahngold in der SU früher viel häufiger aufgefallen war: Damals wurde wohl mehr gelächelt. Der Revisor trat dann meist mit dem jeweiligen Untergebenen ein Weilchen hinaus auf den Gang, und jedesmal, wenn er wiederkam, war er ein Stückchen besoffener. In der Zwischenzeit waren wir das Ziel seiner Mitteilsamkeit. Er trug ein Abzeichen, daß ihn als ehemaligen Wachsoldaten auf dem „Polygon“, dem Atomtestgelände von Semipalatinsk, auswies. „Mein Stolz!, rief er gerührt, „Die Bombe haben wir getestet! Für Rußland, Japonski Bog!“ Wir langten bald beim Du an, und er lud uns zu sich nach Hause in Pawlodar ein: „Noch diese Nacht, Gjunter!“ „Deine Frau wird sich freuen, Wladimir!“ Da wurde er ernst: „Die hat sich zu freuen, Japonski Bog!“ (Die Anrufung des „Japanischen Gottes“ aber ist eine in weiblicher Gesellschaft gebräuchliche Abfälschung eines ähnlich klingenden, gemeinen Mutterfluchs.) Wir wurden dann sehr müde, und er wandte sich - rücksichtsvoll - dem Kaukasier und der Muttel zu. Letztere aber hatte ihn schon die ganze Zeit mit Mißbilligung gemustert, jetzt verlangte sie mit knapper Höflichkeit, die Herren möchten das Abteil verlassen, sie wolle sich umziehen. Das wurde respektiert, und als wir wieder reinkommen durften, saß da eine Dame der gehobenen Gesellschaft in Lederjacke und chicen Stiefelchen. Es war zwei Stunden vor Pawlodar, der Speisewagen war mit Ausfegen beschäftigt, man eilte mit Handtuch und Seife zur Toilette, die Bettwäsche wurde nachgezählt, und Wladimir schaffte es, nüchtern zu werden. Er half uns dann beim Koffertragen und war ein ganz netter Kerl. Natürlich wurden wir abgeholt und bedankten uns für alles, was er für uns getan hatte.

 

16. Nudeln auf den Ohren

Die Moskauer Kriminalnaja Chronika, voll bitterer Ironie, hat eine ständige Rubrik, ähnlich aufgemacht wie ein Langzeitwetterbericht: Kriminalitätsprognose für Oktober: Unter dem Einfluß der Herbstwitterung steigt die Zahl der Selbst- und Sexualmorde. Da einige Städter aus der Sommerfrische zurückgekehrt sind, sinkt leicht die Zahl der Einbrüche in Stadtwohnungen. Dagegen steigt sie im Bereich Sanatorien und Datschen...

Vielleicht lag es also am naßkalten Herbstwetter, den eilig dahinflüchtenden Elsterschwärmen, dem trägen, trübsinnigen Schwappen des Irtysch gegen die Ufermauern, daß auch hier den Straßenpassanten, den Buspassagieren, den laubfegenden Pensionären, die allgemeine Verdrossenheit ins Gesicht geschrieben stand. Und keineswegs Feststimmung am Vorabend des kasachischen Unabhängigkeitstages. „Unabhängigkeit wovon?“ fragten wir. „Eine gute Frage“, überlegte unsere Begleiterin Lena vom Pawlodarer Pädinstitut. „Offiziell von der Sowjetunion.“ Und nach einer Weile: „Und damit von Rußland.“ Sie seufzte: „Das waren Zeiten, als wir noch vor den Läden Schlange standen...“

Tatsächlich, Ladenschlangen gibt es nicht mehr.

Vor dem Hotel trieb sich ein siebenjähriges Mädchen herum, ein bleicher Dreckspatz, es bettelte die Leute an: „Mama ist gestorben, wir haben nichts zu essen...“ Und das Brüderchen, vielleicht fünf, wiederholte trällernd den Sermon: Mama umerla, mama umerla...“ Lena drückte der Großen zwei Kaubonbons in die Hand, die verschwanden blitzschnell in dem verfrorenen Mäulchen. Alle beide in dem einen.

Lena, gretchenblond, lieb, sehr jung, obwohl schon Dozentin, war noch ohne Arg. So hatte sie denn auch unseren Aufenthalt, wie es Vorschrift ist, auf der Miliz angemeldet. Folgerichtig mußten wir heute morgen als erstes dorthin, unseren Paß prüfen zu lassen. Da kam’s raus. Kein Visum für Pawlodar! Immerhin, die Strafe betrug nur 70 DM, und die mitfühlenden Milizionärinnen bedauerten von Herzen, daß sie uns das antun mußten. Kaum wahrnehmbares Kopfschütteln zu Lena hin: Was wir nicht gewußt hätten, hätte uns nicht heiß gemacht.

Im Institut dann Podiumsgespräch, gute Deutschkenntnisse bei den höheren Studienjahren. Das Thema wechselte, wie jedes Mal, zur Politik. Wieder kam die zentrale Frage zur „Wende“: „Wurde es für die Ostdeutschen besser oder schlechter?“ Gegenfrage an das Auditorium: „Können Sie dies für Kasachstan eindeutig beantworten?“ Allgemeines Abwinken: „Aber gewiß doch.“

Wir lernten ein erheiterndes russisches Idiom: Jemandem Nudeln auf die Ohren hängen, d. i. ihm ein X für ein U vormachen. Parteien und Politiker, hieß es, die es darauf anlegen, den Leuten Nudeln auf die Ohren zu hängen, gebe es auch heute zu Genüge. Es fielen russische Namen: Jelzin, Gratschow, Shirinowksi, Sjuganow. Moskau bleibt die Bezugsgröße, trotz Unabhängigkeit.

 

17. Der Unabhängigkeitstag

Der 25. Oktober ist der Tag des Austritts Kasachstans aus der Sowjetunion. Wir hatten uns vorgenommen, uns die Festlichkeiten in der Stadt anzusehen. Nun regnete es aber wieder, wir hatten uns eine Erkältung eingefangen, und Lena rief an, daß von Festlichkeiten weit und breit nichts zu sehen sei. Vielleicht heute nachmittag. Ein verschnupfter Morgen vor dem Fernseher. Ein neuer Skandal: Eine kasachische Firma hatte funktionstüchtige Panzer und Kanonen als Schrott aufgekauft, auf einen langen Güterzug geladen und ostwärts durch halb Rußland transportiert, in der Absicht, den „Schrott“ dann in Wladiwostok nach Nordkorea zu verschiffen. Wieso waren die Behörden erst in letzter Minute aufmerksam geworden? Wer alles steckte mit im Geschäft?

Das weitere Programm war Nationalem, Folkloristischem gewidmet. Und da gab es Erfreuliches: den Aitys, den Sängerwettstreit zur Dombra. Die glänzend kostümierten Volkssänger, Akyny genannt, Vertreter verschiedener Nomadensippen oder Auls, frotzelten sich gegenseitig in improvisierten Strophen an, jeder variierte ein eigenes melodisches Grundmuster und beschloß seine Pointen mit einem langgezogenen Ai-ai-ai, ai-ai. Wir hatten gehört, daß so ein Akyn oft ein echter Dichter sei, konnten aber nur die musikalische Seite der Sache unglaublich finden und mußten an den sonnig grienenden Mienen der (meist männlichen) Zuhörer auf den derben Inhalt der Texte schließen.

Dann kamen Reiterturniere. Die Mannschaften in Panzerfahrerhauben trachteten, einander im Gedränge von Pferdeärschen ein Hammelfell zu entreißen und es in ein Ziel zu transportieren. Auch gab es Ringkampf zu Pferde - wer zerrt wen aus dem Sattel. Das könnte ein Übergang zu einem politischen Thema sein, aber heute nachmittag gab es in Ermangelung anderer Festivitäten den Besuch in einem Museum, dem Vaterhaus des russischen Dichters Pawel Wasiljew. „Nicht die Mutter gebiert uns, es ist das Heimathaus...“ Die wackere Museumsführerin rezitierte sich in hohe Begeisterung, und zum Beweis, wie wichtig ihr Dichter war und ist, führte sie an, daß auch in Bonn an seinem Werk geforscht werde. Uns genügte, daß Wasiljew 1936 unter dem Vorwand, er habe den weisen Führer Stalin ermorden wollen, ermordet wurde. Da sind wir doch wieder bei der Politik gelandet.

Wir dichteten was ins Gästebuch und bekamen einen Schnupfenanfall, worauf die gute Frau ein Schild an ihr Museum hängte: Sanitarnyi djen wörtlich übersetzt: Reinigunstag, was schlicht bedeutet: Heute geschlossen, und mit in unser Auto stieg. Wir mußten einen Umweg zu ihrer Wohnung machen: Sie bestand darauf, uns ein Glas selbsteingemachter Himbeeren mitzugeben, Warenje, halb Kompott, hab schon Marmelade - in heißem Tee ein Wundermittel gegen Erkältung. Das Rezept sei hiermit weiterempfohlen. Hinweis: Der Kranke muß stark im Glauben sein.

 

18. Nach Semipalatinsk

Sechs Stunden im Bus. Raureif lag auf der Steppe, im Lautsprecher die populäre, bei Wysozki abgekupferte Kratzstimme von Michael Schufutinski: „Kapitan, Kapitan“ und „Rossija moja...“ Die Fahrgäste boten sich gegenseitig Bonbons an, auf der Chaussee lag ein verlorenes halbes Fuder Heu, unser Bus drückte seine Reifenspuren mitten hindurch. An der Autostation Selo Lebashje eine Viertelstunde Halt, Männer und Frauen verkrümelten sich diskret hinter’s nächste Mäuerchen. Eine Toilette, nein, ein Lokus, nein, ein Sch...haus war auch vorhanden, aber... Jenes unsägliche Thema haben wir bisher nicht berührt, und dies soll das einzige Mal gewesen sein. Aus einem anderen Bus wurde ein Strafgefangener abseits geführt, per Handschelle an einen Wachsoldaten gefesselt. Ein Offizier folgte in zwei Meter Abstand... Weiter geht’s! Im Bus roch es nach nassen Mänteln und den Zigaretten des Fahrers. Schufutinski lief zum dritten Mal. Dann ein Schild: Gebiet Semipalatinsk, noch 160 km. Wie scheue Herden erste Baumgruppen, Kiefern, die allmählich in jungen Wald übergingen. An einer Kreuzung zwei Gräber. Zeit für den Reserve-Apfel, ein bißchen Schlaf. Dann, endlich, die GAI-Station am Stadtrand, die Ausweise wurden verlangt, aber nicht kontrolliert.

Herr Sdrenadjuk, der uns zum Hotel abholte, hatte Sorgen: Seine Frau lag in der Klinik, es gab Komplikationen bei der Geburt... In der Gebietshauptstadt Semipalatinsk rund hundertfünfzig Kilometer südlich des berüchtigten „Semipalatinsk Nr. 21“, des Atomtestgeländes, wo 1948 die erste sowjetische Uranbombe, 1958 sogar eine H-Bombe überirdisch gezündet wurden, wo die unterirdischen Tests ab 1956 nicht abrissen, (immer Sonnabend/Sonntag je ein kleiner Erdstoß) - in Semipalatinsk ist die Strahlenbelastung noch heute hoch. Es gibt überdurchschnittlich viele Mißbildungen bei Neugeborenen, Leukämie, Geschwulsterkrankungen, hohe Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten, Tbk, Lungenentzündung, Grippe. Herr Stdrenadjuk hat Grund zur Sorge.

Die Stadt ist über 300 Jahre alt, es gibt historische (und historisierende) Bausubstanz, Klassizistisches, Säulen, steinerne Löwen. Und alles ist in verhältnismäßig gutem Zustand. Moskau hat sich die Reputation gerade dieser Stadt etwas kosten lassen, nebenbeibemerkt des einstigen Verbannungsortes Dostojewskis, den dieser „des Teufels Streusandbüchse“ genannt hat.

Wir erfuhren, daß Gemüse und Fleisch hier besonders billig seien. Und hatten uns vorgenommen, in den zwei Tagen unseres Aufenthaltes möglichst wenig davon zu essen und nur Import-Mineralwasser zu trinken. Im Bufett des 12. Stockwerks unseres Hotels „Irtysch“ begrüßten sich zwei Mitarbeiterinnen zum Abenddienst. Die eine: „Wie ist die Stimmung?“ Die andere: „kühn!“ Und sie lachten und machten sich an die Arbeit, schnitten Tomaten und Wurst, öffneten eine Flasche „Semipalatinsker Quelle“ für den hungrigen und durstigen Gast.

 

19. Die strahlende Stadt

Wer glaubt, in Semipalatinsk, wo die Strahlenkrankheit droht, nur Trübsinn und Hoffnungslosigkeit anzutreffen, irrt. Es ist, als habe man hier geradezu trotzig die Gefahr aus dem Bewußtsein verdrängt. Die Nachrichten, die wir im letzten Beitrag notiert hatten, wurden von einem heute Dreißigjährigen aus Büchern und aus Erzählungen seinen Vaters eigens für uns zusammengestellt, er selbst wußte angeblich so gut wie nichts, es interessierte ihn nicht. Trotzdem kriegten wir noch eine Information von ihm, die unseres Wissens nicht in der Weltpresse stand: Im Mai 1995 fand die letzte Explosion statt: Die Ladung steckte einfach schon jahrelang in der Betonröhre und drohte, irgendwann unkontrolliert loszugehen. Das Zeug zu entsorgen ging irgendwie technisch nicht, also hat man es gezündet, rums. Muroroa läßt grüßen. Unser Gewährsmann, der Deutschlehrer Erlan Safin, rückte dann mit noch einer Unglaublichkeit raus: Der kasachische Staat habe an Leute, die nachweislich in den Jahren der Tests in der Umgebung lebten, eine einmalige Entschädigung gezahlt: 300 Tenge. Das sind 7,50 DM. Wir haben zurückgefragt, ob wir uns nicht verhört hätten. Nein, sagte er, seine Tante rege sich darüber täglich auf. Bei ihr jage eine Lungenentzündung die andere. Und sollte Erlan eine Null oder zwei unterschlagen haben, was wäre das für ein Unterschied?

Über den sich breit schlängelnden Irtysch spannte sich eine gigantische Eisenbahnbrücke, rollten Güterzüge. Und am Horizont rauchten - Seltenheit!- Schornsteine. Die Uni bildete reichlich Deutschlehrer heran. Die jungen Leute sahen nicht blasser aus als anderswo. Sondern genauso blaß. Sie lasen als Hauslektüre immer noch Kellermann: „Der 9. November“. Und waren nicht gewillt, mit dem original-deutschen Gast ein Gespräch aufzunehmen. Vielleicht war es im Saal zu kalt. Wir wollen aber nicht so tun, als ob uns alles gelänge. Es ist wie bei Lesungen daheim: Manchmal bricht das Eis nicht.

Am Nachmittag wollten/sollten wir das neugebaute Regionalmuseum besichtigen. War doch landesweit „Tag des Museums“! Ein Schild: Tag des Museums. Heute geschlossen. Wir drangen durch einen Hintereingang vor und erblickten ein Karee sich biegender Festtafeln wie in arkadischen Zeiten. Folgten schönem Kehlkopfgesang, wie ihn nur die nomadisierenden Hirtenvölker Asiens können, und entdeckten die offizielle Feier, sozusagen den kulturellen Teil, zu dem wir freundlich eingeladen wurden. (Wer erinnert sich? Auch unsere Betriebsfeiern waren streng geschieden in den kulturellen und den geselligen Teil.) Danach stromerten wir noch durch die Hallen. In der Hoffnung, in irgendeiner Ecke eine Dokumentation über Semipalatinsks „Atomzeitalter“ zu finden. Vergebens. „Was wollen Sie dauernd“, murrte Erlan. „Wir hatten ein Institut für Strahlenkrankheiten, das wurde geschlossen. Ist das kein Beweis, daß wir das Schlimmste hinter uns haben?“

 

20. ...Und Beinbruch

Die Wechselstuben umgürten die 5000-Tenge-Packungen, die aus 100 Fünfzigern bestehen (sollten), statt mit einer Banderole, mit einem Schnipsgummi. So ist der Stapel stets straff. Und welcher Ausländer zeigt schon gern sein Mißtrauen, in Angesicht des strengen Kassierers nachzuzählen und den Betrieb aufzuhalten? Uns fehlten dann fünfhundert Tenge. (Und noch einmal tauschen hatten wir gemußt in Ewartung einer weiteren „Schtraf“ beim Abflug wegen illegalen Aufenthalts, fehlenden Städtevisums.) Aber solche Sorge erwies sich dann als verfrüht. Wir hatten uns von Erlan verabschiedet, winkten dem Auto, da gab es einen Krach, und wir saßen auf einer unter Flaumschnee verborgenen Glatteispfütze. Mit querstehendem Fuß. Stop, hier empfielt sich das „auctoriale Wir“ nicht länger: Ich, ich ganz allein, saß da mit gebrochenem Bein. Auf mein Geschrei hin stürzten Leute aus dem Terminal, trugen mich hinein auf eine Bank, einer breitete seinen Mantel über den von Schüttelfrost gebeutelten Patienten. Nach 20 Minuten war das Krankenauto da. Die junge Schwester hielt mein Bein wie ein Baby durch alle Schlaglöcher bis ins Erste Städtische Krankenhaus. Der Zustand der Räume wie in einem ländlichen Waschhaus, Salpeter, abgeplatzte Ölfarbe. Die Ärzte in hohen Mützen hoben die Achseln: Keine Binden, kein Gips. Es sei denn... Wir konnten bezahlen. Ein Student wurde mit dem Geld losgeschickt, nach einer halben Stunde war er wieder da, sogar mit Novokain, das Bein wurde auf Normallänge gezogen und eingegipst. Um mich abzulenken, fragen sie nach einem Fußballer namens Sparwasser. Was wurde aus dem. Wie hieß er doch mit Vornamen... Und ich fragte, ebenfalls zu meiner Zerstreuung, nach ihren Bezügen. Ein Arzt in S. verdient 2500 Tenge. Auf geborgten Krücken ging’s wieder ins Auto. Zwei Milizionäre trugen mich eine Art Hühnerleiter hinauf ins Heck der Jak 40. Ohne auf meinen halb ungültigen Paß Bezug zu nehmen. Alles hat eben sein Gutes.

In Almaty stand schon ein Rollstuhl am Ausstieg, dann war mein guter Serik da, der Fahrer vom Goetheinstitut. Auf dem Weg zur Unterkunft kaufte er mir für 1500 Tenge ein Paar Krücken. Mein altes Zimmer war besetzt, ich mußte die Treppe hinauf. Hinfort ging es mir gut: Aus der Stolowaja brachten mir die Frauen das Essen ans Bett, immer garniert mit kleinen Extras: ein paar Trauben, einem Apfel, einem Schokoladenbonbon. Die Administratorin kam zum Plaudern. Ich weiß nicht, wie sie es anstellte, daß ich jetzt morgens und abends warmes Wasser hatte. Serik brachte deutsche Zeitungen. Vor dem Fenster wippten Elstern. Die Nächte allerdings waren zum Fluchen, der Gips fast bis zur Hüfte, aus Mangel an Polsterwatte auf die bloße Haut aufgetragen, feuerte. Eine Maschine nach Deutschland flog erst in vier Tagen. Wir - da sind wir wieder beim Wir- beschlossen heldenhaft, nun auch noch die restlichen Auftritte zu absolvieren. Auftritte?

 

21. An Krücken

Es waren diese dreieckigen Stelzen, die unter der Achsel drücken. Sie waren zu niedrig, der Versuch, sie zu verlängern, mißlang sogar mit Autowerkzeug, weil die zum Verstellen vorgesehenen Löcher zu klein oder zu schief gebohrt waren. Gebeugt wankten wir also zu den verbliebenen Veranstaltungen. In der Almatiner Sonntagsschule der „Wiedergeburt“, wo die Deutschen sich vor allem sprachlich auf die Ausreise vorbereiten, gab es einen schönen großen Fernseher, „aus der Heimat gestiftet.“ Zur Zeit hoffte man, daß er nach seiner Trocknung wieder funktionieren würde, denn es hatte durchs Dach geregnet.- Die Leiterin zeichnete uns beim Abschied den Weg zur 68. Schule auf: „Ihr fohrt wot sdjes, nocher fohrter wot sdjes, do is Liebknechta...“ Wir fanden am nächsten Tag hin. Die Kinder akzeptierten sofort das Gipsbein auf dem Tisch, halb deutsch, halb russisch hatten wir unseren Spaß. Auf die Frage, was ein Optimist sei, antwortete ein Knirps: Ein Mensch, wenn was passiert ist, sagt: nicht so schlimm... Die kasachische Variante des Begriffs.

Die restlichen sechsundreißig Stunden zwischen fiebrigem Halbschlaf und Fernsehen. Billigste, meist italienische Serien mit aufgesprochenem Übersetzungstext, nicht mal synchronisiert. Ständig von Reklame unterbrochen: Auf die Melodie von Hänschen klein sang ein Kinderchor: Frjuchte gut, alljes gut, allje Kiender schmeck so gut... Jubel über einen deutschen Fruchtquark, ach wer ihn jetzt gehabt hätte... Das Liedlein wurde zur „kinetischen Melodie“, verfolgte einen bist in den Traum. Gedankenexperiment: Kann man ein Wort denken und gleichzeitig ein anderes aussprechen. Zum Beispiel „Scheißspiel“ und „Flugzeug“. Es klappt.

Serik hatte alles organisiert: Durch die nächtliche Hauptstadt - keine Laterne brannte - ging es hinaus zum Aeroport. Er plazierte den Blessierten in der Wartehalle, besorgte Registrierung und Gepäck. Eine junge Beamtin übernahm uns sozusagen aus seinen Händen, führte uns zum Flugzeug, sorgte für einen geeigneten Platz. Um uns - Lederjacken, rote Bauerngesichter, stämmige Greise, Väter mit Pranken Marke Arbeiterklasse, besorgte Mütter, schlechtfrisierte Kinder. Zwischendrin eine Familie Barby live. Gesprächsfetzen: „Ich weiß nicht, warum Ihr weint, ihr Weibsen!“ Nachdenkliche Gesichter, finster entschlossene, traurige, besonders älterer Frauen.

Gott weiß, was Euch erwartet, Ihr guten Leute. Ihr sagt, Ihr tut diesen Schritt für die Kinder. Und wer Euer Land gesehen hat, ahnt, daß Ihr recht habt. Aber zuhause, in der Chemnitzer Max-Müller-Straße, haben wir die „Njemzy“ auf ihren Haxen hocken und Löcher in die Luft starren sehen. Die Keilereien Eurer Sprößlinge mit denen der „richtigen Deutschen“. Mit gemeinsamen Volkstänzen wird es erst mal nichts. Die „richtigen Deutschen“ tragen nämlich allesamt Gips, wenn auch nicht alle ums Bein.