Günter Saalmann

Poetikvorlesung

 

Ein Bericht

Was heute nicht mehr üblich ist – die Mutter brachte uns Fingerreime bei, „Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen“, sie sang „Guten Abend, gut Nacht“, „Der Mond ist aufgegangen“, „Im schönsten Wiesengrunde“, „Auf einem Baum ein Kuckuck saß“. Der ganze Kanon der gängigen Volkslieder und Weihnachtslieder war bis zur Strophe zwei geläufig, sie las uns Märchen vor, aus Buchausgaben, die man heute auf dem Flohmarkt freudig wiederentdeckt, sie betete mit uns zur Nacht: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Lieber Gott beschütze Vati und Mutti und Ute und Tante Ilse und Oma und alle beide Opas, und mach dass bald Frieden wird und Sieg, Amen.“ Das Beten fiel später infolge Nachlassens des frommen Kinderglaubens weg, vorerst gesellten sich Fibeltexte hinzu: „Seht nur unsere Schneesoldaten, alle sind sie gut geraten, hei, nun zieh’n wir in den Krieg, unser Heer gewinnt den Sieg.“ Wieder: Sieg.

Jahre nach der verdienten Niederlage hatten sich auch die poetischen Inhalte geändert, man sang:

 

Jugend, erwach, erhebe dich jetzt,

die grausame Nacht hat ein End.

Und die Sonne schickt wieder

Die Strahlen hernieder

Im blauen Himmelsgezelt.

Die Lerche singt frohe Lieder ins Tal,

das Bächlein ermuntern uns all,

Und der Bauer bestellt

Wieder Acker und Feld,

bald blüht es allüberall.

Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf,

Freie deutsche Jugend, bau auf!

Für eine bessere Zukunft

Richten wir die Heimat auf.

 

Allüberall der Hammer ertönt,

die werkende Hand zu uns spricht:

(man beachte das Bild von der sprechenden Hand!)

Blicke frei in das Licht,

das dir niemals gebricht,

freie Jugend, steh deinen Mann.

Kein Zwang und kein Drill,

der eigene Will

bestimme dein Leben fortan.

Freie Jugend, voran,

brich dir selber die Bahn,

…. Ta ta ta … Mann für Mann.

 

Zwang und Drill, allerdings gemäßigt, hat es ja dann doch wieder gegeben, aber es gab eben auch Lehrer, die den Schüler Saalmann mit dem freien Geist der so genannten humanistischen Bildung in Berührung brachten, insbesondere Deutschlehrer, denen er noch heute dankbar zu sein hat.

Die Kriegsereignisse hatten es mit sich gebracht, das bei Saalmanns bis auf wenige Ausnahmen sämtliche Bücher verbrannt waren. Die Ausnahmen, sofern sie den Jungen betrafen: Mark Twain, Huckleberry Finn; eine Schülerausgabe der Ilias und Odyssee, später ein Wilhelm-Busch-Album von Tante Ilse aus dem Westen.

Erste sowjetische Autoren kamen dazu, gedruckt auf gelbem, holzigem Papier im SMA-Verlag: Valentin Katajew, es blinkt ein einsam Segel.

Man merkt schon, das Durcheinander im Kopf des Knaben konnte nicht größer sein. Aber da ich mich heute hauptsächlich auf meinen Weg zur Dichterei – oder sage ich Reimerei? – konzentrieren möchte, nenne ich nun, was schon zur Oberschulzeit auf mich eindrang: Wilhelm Busch erwähnte ich schon, an dem mich natürlich auch die grafische Seite stark interessierte.

Der zweite war Christian Morgenstern, da speziell die Galgenlieder, Palmström, Herr v. Korf, Palma Kunkel. Ein paar Leute aus unserer Klasse lernten Morgenstern um die Wette auswendig, und was man in jungen Jahren lernt, sitzt:

 

Zäzilie

 

Zäzilie soll die Fenster putzen,

sich selbst zum Grame,

doch dem Haus zum Nutzen.

Durch meine Fenster muss man, spricht die Frau,

so durchsehn können, dass man nicht genau

 erkennen kann, ob dieser Fenster Glas

Glas oder bloße Luft ist,

merk dir das.

 

Zäzilie ringt mit aller Menschen Waffen,

doch Ähnlichkeit mit Luft ist nicht zu schaffen.

Schließlich ermannt sie sich mit einem Schrei

und schlägt die Scheiben allesamt entzwei.

Befreit die Rahmen von den Resten

und ohne Zweifel ist es so am besten.

Sogar die Hausfrau spricht zunächst verdutzt:

so hat Zäzilie ja noch nie geputzt!

Doch allzu bald ersieht man, was gescheh’n,

und spricht einstimmig, diese Magd muss geh’n.

 

Doch weiter: Ringelnatz: Unser Klassenlehrer rezitierte seitenweise auswendig aus Kuddeldaddeldu, übrigens, über achzigjährig, auf einem Klassentreffen auch aus Faust -  wir beschränkten uns damals schon auf kürzere Texte:

 

Ich habe dich so lieb

 

Ich habe dich so lieb.

Ich würde dir ohne Bedenken

eine Kachel aus meinem Ofen schenken.

 

Ich habe dir nichts getan,

nun ist mir traurig zumut,

an den Hängen der Eisenbahn

leuchtet der Ginster so gut.

 

Vorbei, verjährt,

doch nimmer vergessen,

ich reise,

alles, was lange währt, ist leise.

 

Die Zeit entstellt

alle Lebewesen,

ein Hund bellt.

Er kann nicht lesen,

er kann nicht schreiben,

wir können nicht bleiben.

 

Ich lache.

Die Löcher

sind die Hauptsache  an einem Sieb,

ich habe dich so lieb.

 

Ferner: Kurt Schwitters:

 

Kleines Gedicht für große Stotterer

Ein Fischge, Fisch, ein Fefefefefischgerippe

Lag auf der auf, lag auf der Klippe.

Wie kam es, kam, wie kam, wie kam es

Dahin, dahin, dahin?

Das Meer hat Meer, das Meer, das hat es

Dahin, dahin, dahin gespület,

Da llllliegt es, liegt, da llllliegt, llliegt es

Sehr gut, sogar sehr gut!

Da kam ein Fisch, ein Fefefefefisch, ein Fefefefefefe-fefe

­fefefefe- (schriller Pfiff) feFe feFe feFe feFefischer,

Der frischte, fischte frische Fische.

Der nahm es, nahm, der nahm, der nahm es

Hinweg, der nahm es weg.

Nun llllliegt die, liegt, nun llliegt die Klippe

Ganz o oo ohne Fischge Fischgerippe

Im weiten, weit, im Wie Weltenmeer

So nackt, so fufu furchtbar nackt.

 

Der Umgang mit dieser Art von Gedichten wurde Voraussetzung für späteres eigenes Schreiben – und es gab die Richtung vor.

Aber mit dem eigenen Schreiben war es noch lange nicht so weit.

Ich wollte Germanistik studieren, aber bei den Germanisten in Leipzig war kein Platz mehr im berühmten Hörsaal 40 der alten Uni, wo Korff noch las und Hans Meyer. Ich ging zu den Slawisten, mehr der Not gehorchend als dem eigenen Triebe, ich sollte Lehrer werden für Russisch, dann auch für Kunsterziehung. Außer ungefähr zehn sowjetisch-russischen Liedtexten, einer Krylow-Fabel und einem Hexametergedicht von Alexander Block ist mir nichts Lyrisches in der Originalsprache mehr ihn Erinnerung.

Immerhin, das Block-Gedicht hat mir vielleicht – mehr unbewusst – Richtung gegeben, für Interessierte zunächst russisch:

 

Море

Жизнь как море, она всегда исполнена бури.

Зорько смотри, человек, буря бросает корабль.

Если же ты, человек, не видишь конца этой бури,

Если ты блуждаешь в пространстве моря глухом,

Ну, без мысли тогда бросайся в холодное море,

Пусть потонет корабль, вынесут волны тебя.

 

Auf deutsch, prosa:

 

Das Leben ist wie das Meer, immer vom Sturm erfüllt.

Gib acht, o Mensch, der Sturm wirft das Schiff auf und nieder.

Wenn du, Mensch, das Ende des Sturms nicht siehst,

wenn du in der öden Weite umhertreibst –

dann stürze dich ohne Besinnen ins kalte Meer,

Mag das Schiff scheitern – die Wellen tragen dich an Land.

 

Da ist also der berühmte Sprung ins kalte Wasser – nach meiner Exmatrikulierung (Der Saalmann gehörte zwei Jahre nach dem Ungarnputsch 1956 zu den „Elementen, die die Maske hatten fallen lassen“), wurde ich zunächst Straßenbahnschaffner, dann hatte ich in einer Radiofabrik für ein Jahr eine Tätigkeit mit der wenig poetischen Berufsbezeichnung: Materialverbrauchsnormhilfssachbearbeiter (My running gag), dann erlernte ich den Beruf eines Schaufensterdekorateurs beim Konsum, malte Plakate, schrieb Losungen zum 1. Mai auf Stoffbahnen, installierte Lämpchenketten zu Weihnachten. Ich hatte seit der Oberschulzeit auch musiziert, Schlagzeug, Gitarre, später Posaune, und in der Tanz-Combo begann ich, Texte für den eigenen Bedarf zu schreiben.

Es war ja fast ein Zwang, damit anzufangen. Denn in jenen Jahren, etwa um 1960, gab es weder in Ost noch West andere als aller-albernstee Lied-Texte; der Schlager bediente – wie noch heute – die Bedürfnisse des berühmten Lieschen Müller, er war infantil und wurde mit Kinderstimme, nicht von Kinderstimmen, gesungen:

 

Hoch vom Norden her

Kam ein kleiner Bär,

weiß vom Kopf bis zum Po,

und der kleine Mann

schaut sich alles an,

Schließlich kam er auch noch in den Zoo.

Und so zottelt er,

unser kleiner Bär

in dem Zoo her und hin.

Bis ein Wärter kam,

und ihn zu sich nahm,

Endlich sitzt er nun im Käfig drin.

 

Lieber kleiner Bär,

kommst vom Norden her,

du musst eines versteh’n:

So ein kleiner Bär,

kommt vom Norden her,

darf doch nicht im Tierpark bummeln geh’n.

 

Die Beatles gab es noch nicht, allenfalls die Jammerboje Elvis Presley, in Deutschland vielleicht Bill Ramsay mit:

 

Souvenirs, Souvenirs,

kauft; Ihr Leute, kauft sie ein.

Denn sie sollen wie das Salz

in der Lebensuppe sein.

Von Louis das weiße Tuch,

das die Trompete einhüllt,

und von Eddy (?) die Pistole,

mit der er Gangster killt …

 

Fast eine Satire. Aber leider, wir durften sie eigentlich nicht aufführen, denn es gab das berühmte DDR-Gesetz 60 : 40, wonach auf den Tanzsälen sechzig Prozent im Osten geschriebene Schlager gespielt werden mussten – die Gründe waren die Devisen für Tantiemen, die wir nicht hatten, und ideologische Gründe, all die Urlaubsschlager mit Italiano und Vino und Casino, sie idealisierten eine Welt, in die wir sowieso nicht reisen durften.

Blieb nur die Idealisierung der eigenen Wirklichkeit, oftmals die direkte Propaganda: Beispiel: Der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chrustschow hatte in der UdSSR für den Maisanbau für Futterzwecke geworben und gesagt, der Mais sei „die Wurst am Stiel“. Prompt erschien bei uns der Schlager:

 

Der Mais, der Mais, wie jeder weiß,

das ist ein strammer Bengel,

der Mais, der Mais, wie jeder weiß,

das ist die Wurst am Stengel.“ (Stängel damals noch mit e)

 

Musste man als Tanzband da nicht anfangen, selber zu komponieren und zu dichten? Unser Pianist komponierte, ich dichtete:

 

„Täglich so von 5 bis 7,

 nachmittags fisch ich im Trüben.

Ich mach den Abwasch für Elfriede

und wär´ ich noch so hundemüde.

Ich bin so häuslich und so-lide,

nur wegen Fräulein Elfriede.“

 

Oder:

 

Wasser im Vergaser,

Sprit im Blut

und die Bremsen

zieh’n nicht gut,

Bruch im Rahmen,

Tank kaputt,

dazu braucht man Mut.

 

Direkt aus unserem Leben gegriffen waren auch Reimwerke wie:

 

 Küssen Sie mir wenigstens die Wange,

nur keine Bange, es dauert ja nicht lange.

Das ist nicht viel, was ich verlange,

nur auf die Wange bitte, nur auf die Wange.

 

 Oder:

 

Du hast so’n schönes Dekolleté,

ich steh in Flammen, wenn ich´s seh´,

ob aus der Ferne oder Näh,

Näh, Näh, Näh, nee, nee, nee, nee,

hast du ein schönes Dekolletee.

 

Oder:

 

Wenn es Sie betrübt,

dass Ihr Mann Sie nicht mehr liebt,

geh’n Sie zum Friseur,

und er liebt Sie wieder mehr.

 

Solches  sei hier nur um der Kurzweil willen vorgetragen.

Man sieht – abgehoben in die Sphären der reinen Poesie hatte ich da noch nicht.

Immerhin aber gab es ein paar Texte – ich schrieb sie übrigens nachts auf Bahnhöfen, wenn ich nach abendlichen Auftritten auf den Frühzug warten musste – eine Art von Texten, die von den Kollegen Musikanten verworfen wurde, niemand fand sich, sie zu vertonen – Texte, die so ganz und gar nicht mehr in den Mainstream des Schlagergeschäfts passten. Und damit hatten die Kollegen Recht – sie passten wirklich nicht.

Und damit begann der Anfang vom Ende meiner Tanzmusikerkarriere, obwohl ich zehn Jahre zuvor mit Glück und Unverschämtheit eine Berufsmusikerprüfung als Posaunist abgelegt hatte.

Eines Morgens nämlich, als ich aus einer verschimmelten Pension in Leipzig zeitig und ohne Frühstück aufbrach, las ich in der Karl-Tauchnitz-Straße ein schwarzes Glasschild mit goldener Schrift: Institut für Literatur Johannes R. Becher. Ich trat ein, in der Umhängetasche mehr zufällig eine Mappe mit etwa 200 Texten.

Ein Herr, den ich für den Hausmeister hielt, sprach mich an. Ich brachte, verwirrt, und um überhaupt etwas zu sagen, die Frage hervor, ob man hier studieren könne.

Er sagte ja, er war der stellvertretende Direktor und mein nachmalige Lehrer in Weltliteratur Dr. Kanzog.

Es folgte ein Jahr Zirkel Schreibender Arbeiter in Chemnitz, dann eine Delegierung zunächst zum Fernstudium nach Leipzig, dann die Übernahme ins Direktstudium.

Bei dem Aufnahmegespräch fragte man mich, warum ich mit 37 Jahren noch mal studieren möchte, sie wollten meine Motivation wissen, und ich antwortete, ich wolle Dieter Schneider, den damals maßgeblichen Schlagertexter der DDR, aus dem Sattel werfen, einfach bessere Sachen liefern. Das wurde verständnisinnig akzeptiert.

Aber sogleich interessierte mich die Schlagermacherei nicht mehr. Die nächsten drei Jahre habe ich fast überhaupt nichts geschrieben, die Konfrontation mit der Weltliteratur blockierte die meisten meiner Mitstudenten und mich. Und der Zufall wollte im dritten Jahr, dass ich ein altes Textlein mal in einer Runde vorlas, in der eine Redakteurin des Kinderbuchverlags anwesend war, Frau Dr. George. Sie animierte mich zu meinem ersten, als solchem auch geplanten, Kindergedicht, das an einem einzigen Nachmittag entstand und ohne Korrektur zu meinem ersten „Buch“ wurde, Hartpappe, zwölf Seiten, pro Seite zwei bis vier Zeilen:

 

Frank ist krank,

der Doktor spricht:

Ausgeh’n darf er heute nicht.

Er verordnet gelbe Pillen,

und die Oma kocht Kamillen.

 

Damals hießen bei uns viele Kinder Frank, die natürlich öfters mal auch krank waren – das passende Geschenk in solchem Fall, das Werk wurde ein Renner.

So ist es losgegangen.

Wie ging es aber weiter? Wenn man zu schreiben beginnt, haben die meisten wohl noch keine eigene Poetik, spärliche Grundsätze außer einer allgemeinen, wenig durchdachten politischen Grundhaltung, eine „allgemeinmenschliche“ Ideologie, mit der sie selbst unzufrieden sind, man versteht vom Handwerk nur, was man in der Schule gehört, aber noch nicht praktisch verinnerlicht hat. Man weiß eigentlich nur, was man nicht will.

Was man partout nicht will. Wie denn überhaupt oftmals der Überdruss auf neue Wege führt; der Tanzmusiker mit einer Spur Selbstachtung findet zum Jazz, ein Posaunenchor weigert sich, fernerhin alle Jahre wieder Weihnachtslieder zu spielen und wagt sich an Gershwin, ein Maler verklapst mit einem Butterfleck an der Wand die ganze Kunstwelt.

Die Psychologie spricht bei vielen dieser Leute vom „Bumerangtypus“, solchen, die eigentlich ursprünglich durchaus nicht sonderlich kreativ sind, sondern es erst im Widerspruch, etwa zur gängigen Lehrmeinung, zur allgemeinen Praxis werden.

(Bestes aktuelles Beispiel: Der amerikanische Filmemacher Michael Moore, der immer besser wird, je schlimmer G. W. Bush in der Welt haust.)

Ich war allerdings harmloser. So, wie ich zuvor gegen die eingesessene DDR-Schlagerlobby antreten wollte – aber dieser Gegner war mir dann einfach doch zu läppisch – so erfand ich mir die Aufgabe, nun den Hühnchen-Häschen-Teddy-Reimereien, der ganze Nesthäkchen-Heidi-Niedlichkeit etwas entgegen zu setzen.

James Krüss kannte ich nicht, Michael Ende, die Westdeutschen, kannte ich nicht.

Aber ich bemerkte mit Erstaunen, dass auch DDR Kollegen den Boden umpflügten, hier erwähne ich Joachim Nowotny, seinen Kinderroman „Der Riese im Paradies“ und darin eine Szene, in der ein übler Suffkopp seinen Hund unbarmherzig prügelt. Niemand ist da, um dem Hund zu helfen – der Autor ruft den Leser zu Hilfe: Wir, wir laufen dort und dort hin, holen den und den …

Es erwies sich dass es in der Kinderliteratur wie in der „richtigen“ Literatur Konflikte gab und geben musste, und dass bei solchem Realismus plötzlich das Abheben in die Transzendenz des Kunstgriffs geben konnte. Der Leser selbst greift ins Romangeschehen ein, wird zum Deus ex machina.

Mein erster Roman „Das Vorbild mit dem Schnauzebart“ – hat sich stilistisch stark an Nowotnys Prosa angelehnt. Es ging darin um Hermann Duncker, einen marxistischen Theoretiker, der übrigens 1918 zu den Gründungsmitgliedern der KPD zählt, zusammen mit Liebknecht und Luxemburg, es ging um Dunckers abenteuerliche Biografie, aber vor allem um die Akzeptanz solch gewichtiger Autoritäten unter damaliger DDR-Jugend: Nämlich um die emotionale Ablehnung, welche Autorität zu allen Zeiten bei der Jugend erfährt, die Ablehnung, die sich nur dann mildert, wenigstens mildert, wenn das große Vorbild nicht auf einem Denkmalssockel steht, sondern sich sozusagen lebendig unters Volk mischt und zum Diskutieren, d. h. zum Widerspruch einlädt.

Ich hielt mich mit diesem Text für einen Bahnbrecher, aber ich rannte bereits offene Türen ein, eine Verlagsrezension in einer Berliner Zeitung sprach davon, dass mit Saalmann ein neuer Ton in die Kinderliteratur gekommen sei, und damit war ich in der Runde aufgenommen.

Trotzdem ist das Buch, obwohl in fünf Auflagen verkauft, also mit etwa 100 000 Exemplaren, kein rechter Erfolg geworden: – der Kritiker und Autor Harmut Mechtel hat es so gesagt: Ein gutes Buch für keinen Leser. Denn für Kinder war es stilistisch zu schwer, und Erwachsene lasen kaum mal Kinderbücher. Aber sie kauften sie eben – Kinderbücher wurden immer gekauft, von Oma und Opa gehortet: „Wenn das Kind mal zwölf wird, haben wir gleich ein Geschenk.“

Es folgten Büchlein für kleinere Leser, gereimte Bilderbücher weiterhin,

und dann der „Wurf“: Umberto, ein Roman über einen Jungen mit asozialem Zuhause.

Aber zurück zum Gedichteschreiben.

Wie schon weitläufig dargestellt – eine Poetik hat man am Anfang nicht. Man weiß nur, was man nicht will.

Aber was stattdessen? Die Rückschau zeigt, dass mir nie ein griffiges Grundkonzept vorlag, dass ich mich vielmehr von Fall zu Fall, nämlich von Einfall zu Einfall tastete, vorwärts, rückwärts, seitwärts – lohnt es sich, sich tagelang mit einer Gedicht-Idee zu befassen? Man ist oft genug gezwungen, ein Blatt weg zu legen. Um es vielleicht nach Jahren hervor zu holen und zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen.

Wichtig dabei: Thematisiere nur, was dich selbst bedrängt, bewegt, wütend macht. Nur dann wirst du die Sprache finden, die auch andere bewegt.

Ich kam zu der vielfach widersprochenen Aussage: Mein Schreib-Antrieb ist Wut. Muss es, hieß es da, nicht auch Liebe sein, Begeisterung?

Ja, sicher, aber den Anlass zum Schreiben bot mir immer Zorn über ein bestimmtes, aktuelles Ereignis, irgendeinen Zustand, der ja immer ein Missstand ist.

Und dieses Ereignis, dieser Zustand muss für alle wichtig sein. Ärgert dich nur des Nachbarn Maschendrahtzaun, wirst du zum Gespött. Es geht in der Kunst, die Bestand hat, eigentlich immer um Menschheitsbeträge, auch, wenn sie an einem winzigen Beispiel abgehandelt werden.

 

Vom Allgemeinen zum Besonderen oder umgekehrt?

(Einiges aus der Trickkiste)

Die Erfahrung hat gezeigt, dass man wenig ausrichtet, wenn man mit einem braven Anliegen, betreffend Frieden, Gerechtigkeit auf Erden, Ehrlichkeit, Toleranz usw. sich des Morgens an die Maschine – die jetzt ein Computer ist – setzt und wartet, ob einem zum Anliegen hoffentlich was Passendes einfällt. Es fällt einem nämlich nichts ein. Besser, man nimmt das Geschehen ringsum mit weit offenen Sinnen wahr, noch besser, man beteiligt sich an diesem Geschehen, greift ein.

 

Politik

Soll dieser Brei nicht klumpig bleiben,

empfiehlt sich’s, kräftig mit zu mischen.

Musst du dir schon die Hände reiben,

wär’s gut, du hätt’tst ’nen Quirl dazwischen.

 

 Dann kommt der Einfall fast von allein, und er wiederum prägt, korrigiert womöglich die Haltung zur Welt, den Standpunkt. Übrigens, was den sogenannten Standpunkt betrifft, so gibt es eine interessante Metapher von Daniil Granin in einer Reise-Erzählung über Japan. „Der Garten der Steine“:

In einer Parkanlage ist ein Dutzend großer, aufragender Steine raffiniert und derart angeordnet, dass der Betrachter nie, von keinem Standpunkt aus, alle gleichzeitig überblicken und somit zählen kann – immer ist einer oder sind mehrere vom nächstgelegenen verdeckt. Man muss also den Standpunkt wechseln, um einen objektiven Überblick zu bekommen.

Merke, so Granin: Ein fester Standpunkt ist gut, ein beweglicher ist besser. Das gilt nicht allein als allgemeine Lebensweisheit.

Ich bastelte mir einen Merk- und Sinnspruch:

 

Dichten

Wählen und Wägen,

verwerfen, ersetzen,

sprechen, nicht schwätzen.

 

Was aber wählt man aus? Mit besonderer Vorliebe sinnlich Erfahrbares, es darf auch Sinnliches, sein, Nowotny spricht von „saftiger Prosa“. Aber das gilt auch in der Poesie.

In verschiedenen Schreibwerkstätten, die ich später leitete, haben ich zu Beginn immer folgendes Experiment angestellt: Ich diktierte den Teilnehmern in viertelminütigem Takt drei Gruppen von je 10 Wörtern. Zuerst Konkreta: Stuhl, Sand, Heft, Hunger, Schokolade usw.

Dann Abstrakta: Verfolgung, Meinung, Schwerfälligkeit, Wissen usw.

Zuletzt Konkreta, die aber durch die Poesie schon abgegriffen waren: Rose, Mond, Meer, Himmel, Herz usw.

In den 15 Sekunden zwischen den Wörtern ließ ich frei assoziierte andere Wörter aufschreiben; die Teilnehmer glaubten, es ginge um das Tempo ihrer Einfälle, um einen Wettbewerb also, deshalb überlegten sie nicht lange und schrieben, so schnell sie konnten.

Am Schluss ließ ich nachzählen. Es erwies sich, dass in der dritten Gruppe die höchste Wortzahl erreicht wurde – kein Wunder, die Zirkelteilnehmer waren ja Dichter: Zu Rose fiel ihnen selbstverständlich ein: Liebe, Sehnsucht, Dornen, rot, gelb, weiß, Garten usw.

Bei der zweiten Wortgruppe sah es schlecht aus: Was fällt einem so schnell zu dem Wort Meinung ein?

Die erste Gruppe erbrachte ein Ergebnis nahe an dem der dritten, aber, darauf wollte ich hinaus, waren dies die sinnlich sofort erfassbaren Gegenstände der realen Umgebung, genügend beladen mit Assoziationen und nicht abgenutzt. Und wer sich ihrer bedient, ist bei seiner Dichterei (jedenfalls als Debütant) nicht schlecht beraten.

Das bedeutet ja nicht eine Absage an das Sinngedicht, also das, welches vom Begrifflichen ausgeht. Beispiel vielleicht: Der Zauberlehrling. Klar, dass hier die Idee, nämlich, vereinfacht gesagt, der Gedanke: Schuster bleib bei deinen Leisten – nachträglich ein passendes und sogar originelles Bild gefunden hat. Aber das verlangt Meisterschaft. Schlechte Beispiele gibt es genug. Etwa ein Lied, das ich jüngst in einem Kirchenliederbuch fand, erst 1975 entstanden. Überschrift: Herr und Herrscher, wir künden dein Lob:

 

Kinder und Säuglinge künden dein Lob,

spotten der Übermacht all deiner Feinde,

hoch wölbt sich dein Himmel auch über sie.

 

Man weiß schon, wie es gemeint ist, nämlich, dass die Säuglinge als Wunder der Schöpfung durch ihre bloße Existenz Gott zum Lobe dienen, aber dass sie auch noch spotten, das spottet jeder Beschreibung, und wieso spotten sie der Übermacht der Feinde Gottes? Von einer solchen Übermacht hat man ja noch nie gehört. Kurzum, wie Gottfried Benn sagt, sinngemäß: Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint.

Solche Schnitzer findet man allenthalben in der Propagandadichtung, wie etwa im anfangs zitierten FDJ-Lied die Stelle: „Die werkende Hand zu uns spricht.“ Erstens kann eine Hand nicht sprechen, auch eine werkende nicht, zweitens, was spricht sie nun? Jedenfalls nichts, das Manuelles betrifft, sie sagt: „Blicke frei in das Licht, das dir niemals gebricht …“ also mehr eine Kommunikation: Hand an Auge.

Dabei werden derlei Entgleisungen schon seit Generationen verspottet. Mein Vater pflegte bei passender Gelegenheit ein Sprüchlein zu zitieren: Der Zahn der Zeit, der schon so viele Tränen getrocknet hat, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen.

Ein letztes erheiterndes Beispiel sei hier die Dichterin Friederike Kempner, eine Rittergutsbesitzerstochter, wie sie uns in der Zueignung eines ihrer Gedichtbändchen wissen lässt.

 

Es ringt der Regen mit dem Winde,

es ringt der Segen mit dem Fluch,

es ringt das Alter mit dem Kinde,

es ringt die Sage mit dem Buch.

 

Es ringt die Tugend mit dem Bösen,

es ringt die Arbeit mit dem Gold,

es ringt ein jeglich, jeglich Wesen:

Ob es, und ob es nicht gewollt.

 

Es ringt der Regen mit dem Winde … Aber, nebenbei, wo sie sich nicht bloß lyrisch aufplusterte, dort, wo sie ein echtes Anliegen hatte, für eine Sache glühte, rührte die eine oder andere Strophe uns doch an:

 

Der Scheintodte

 

Und er schlief und schlief so lange,

dass ihn keine Macht mehr weckte –

Unsichtbar, beim Grabgesange

Sich der Todtgeglaubte streckte.

 

Friederike Kempner hat im Reichstag ein Gesetz initiiert, dass die dreitägige Aufbahrung der Toten in Deutschland vorschrieb – eben, um der Gefahr zu begegnen, dass jemand lebendig begraben wird. Das am Rande.

 

Der Musenkuss

(der Arbeitsprozess)

Weiter oben fiel der Satz: Dann kommt der Einfall von allein. Stimmt nicht. Da kann ich lange warten. Ich muss ihn herbeizwingen, mich ausquetschen wie eine Zitrone. Für den Einfall, für die Inspiration gibt es drei Quellen: Erstens die lebendige Erinnerung, diese greift bei einem Kinder- und Jugendbuchautor wohl meist auf die eigene Kindheit zu, zweitens soeben Erfahrenes, Erlesenes, Erlebtes, kurz, die Gegenwart. Ich habe das Glück, mit einer Lehrerin verheiratet zu sein, die außerdem noch gern „aus der Schule“ plaudert, und in der Schule gibt es bekanntlich jeden Tag einen kleinen Skandal, der Stoff geht einem also nie aus. Und erst an dritter Stelle nenne ich die Phantasie, die Fähigkeit, im eigenen Schädel schnell Querverbindungen herzustellen zwischen Ereignissen und Gedankenfetzen aller Art, sie neu nach eigenen Ordnungsprinzipien zu aufzureihen. Das letztere ist dabei wichtig, ich nenne es Phantasie in den Zügeln der Disziplin.

Selten kommt ein Einfall spontan, eigentlich immer nur, wenn man ununterbrochen an einem Stoff grübelt, eine zu erzählende Geschichte hin und her wendet, nicht nur am Schreibtisch, sondern Tag und Nacht – und in solche gesegnete Zustände partieller Abwesenheit aus der realen Wirklichkeit kann man sich hineinsteigern. Man ist für die Mitwelt ungenießbar, wirkt nicht nur abwesend, sondern sogar abweisend, knurrig. Es sind die Nächte mit dem Notizzettel neben dem Bett, die Morgen, an denen man beim Zähneputzen eine kleine Erleuchtung erlebt. (Warum beim Zähneputzen? Vielleicht ist bei solcher Erschütterung die Hirndurchblutung besser, die Gedanken werden neu gemischt. Vielleicht müsste man für Schriftsteller einen speziellen Rüttelsessel erfinden. Was hiermit, wenigstens theoretisch, geschehen ist.)

Was kann man sonst noch für sich tun?

Entsprechend meiner speziellen Aufgabe, für Kinder zu schreiben, ist es häufig das Spiel, das Wortspiel, das mir auf die Sprünge hilft. So kenne ich so ziemlich alle Reimwörter der Umgangssprache, und wenn ich dichte, liegen Zettel herum: Bank, Dank, Frank, Gang? (mit Fragezeichen) krank, Punk, rank uns schlank, Schrank, Gestank, Tank, wank. (Wank? Ja doch, hier ein Impromtu:  Auf dass er ohne Stock nicht wank’ – denn er war schon seit Tagen krank – blieb er im Bett, na, Gott sei Dank. Fehlt noch: Zank. Dass sind im Wesentlichen alle deutschen Reimwörter auf „ank“, alphabetisch geordnet, übrigens auch in alphabetischer Reihenfolge extra für diese Vorstellung gesucht. Man kommt in Übung, und mit der Zeit geht’s ganz schnell.

(Ich rede hier jetzt nur von der sprachlichen Form, nicht von ideellen Werten, pädagogischen Zielen usw. Und auch nur vom Kindergedicht-Schreiben. Ganz nebenbei hier die Antwort auf die ewige Frage, warum ich für Kinder – und nicht für Erwachsene - schreibe: Ich konnte es einfach am besten, ausprobiert habe ich mancherlei, und mancherlei ist, wie ich bescheiden anmerke, auch für die Großen mit Gewinn zu lesen.)

Bei mir ist es häufig das Jonglieren mit Wortklängen, oft nur mit Buchstaben, das mir weiterhilft. Beispiele:

 

Vor dem großen, reichen Kaufhaus

Sitzt ein kleiner, bleicher Saufaus.

Psst, da schau’n wir nicht so drauf.

Blanke Türen gleiten auf.

 

Die gute Findung hier: groß, reich. klein, bleich und Kaufaus, Saufaus. Heraus kommt eine Strophe, die mir ins Konzept passt. Wird ausgewählt, mit Sicherheit nicht verworfen. Oder, was Harmloses:

 

Bei den Eschen

schrie das Häschen,

es begoss sich dort das Näschen:

 
Gebt den Fröschen

Niemals Höschen,

eitlen Putz und Puderdöschen.

 

Den Geräuschen

Lauscht das Mäuschen,

angsterfüllt, ganz aus dem Häuschen.

 

Bat da Gänschen

Es zum Tänzchen,

Niedlich, niedlich,

schrie’n die Menschen.

 

Das ganze Stück beruht auf dem Hintergedanken, dass der junge Leser, dem Reimzwang folgend, die Wörter falsch liest: Fröschen, Döschen. Das wäre aber noch nicht witzig genug, wenn in der letzten Triade die Sache nicht umgekehrt würde – aus Menschen werden Mens-chen. Und mit dem „niedlich, niedlich“, dem ich eine extra Zeile, zum Zwecke der Hervorhebung, zugestehe, habe ich eine kleine Satire auf die anfangs erwähnte Niedlichkeits-Kinderliteratur, die heute wieder fette Blüten treibt.

Andere Autoren arbeiten offenbar ähnlich. Als ich einmal den Reim erfunden zu haben glaubte: Eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe – da war ich sehr stolz. Aber dann entdeckte ich, dass schon der Volksmund ähnliches hervorgebracht hatte. Oder mein Gedicht vom Waldzwerg, der in ein Walzwerk arbeiten geht – die Idee war bei Hansgeorg Stengel schon da. Aber sein Gedicht ging insgesamt anders, darum konnte ich ausnahmsweise meines stehen lassen. Weitere Wortspiele, die mir gelangen:

 

Gipfeltreffen

Zwei Gipfel trafen sich einmal.

Zerquetscht mich nicht, schrie da das Tal.

 

Oder:

 

Erst war ich einfältig.

Dann aber zweifelt’ ich.

 

Oder:

 

Das Übliche und das Übel

Stinken aus einem Kübel.

 

Oder:

 

Am Nordpol heißt die Polizei:

Nordpolizei.

 

Oder:

 

Was kann bei einem Hurrikan

Ein Curryhuhn tun?

Es nimmt sich einen Curryhahn,

dem kann

der Hurrikan doch nichts tun?

 

Oder:

 

Wunsch:

Den Gesunden frohe Runden,

Kranken heitere Gedanken.

Den Potentaten weise Taten.

Und den Soldaten

Keine Heldendaten.

 

Themenwahl

(oder die Welt und Gott)

 

Es ist sinnlos, tausendmal abgegriffene Gegenstände immer wieder aufzugreifen. So warne ich alle schreibenden Hausfrauen, die mir nicht selten ihre Werke zur Beurteilung schicken (Sie rechnen auf Lob), rate ihnen, keine Teddygeschichten mehr zu schreiben. Und zu Weihnachten keine Nussknackergeschichten, und nichts vom Osterhasen. Es sei denn, jemand hat einen wirklichen Einfall – und das ist dann immer mit einer satirischen Verarbeitung verbunden, d. h., der Text wendet sich gar nicht an die Kinder, sondern an die Erwachsenen, die gleich dem Autor das ganze Gesäusel satt haben.

Verwiesen sei auch auf eine Stelle bei Heinrich Heine: In seiner „Harzreise“ deklamiert ein Romantiker eine Ode an den Mond, der aber eine gelbe Lederhose auf einem Kleiderbügel ist – statt des Herbergsfensters hat der Mann im Suff die Schranktür geöffnet. Heine, am Ausgang der Romantik und ihrer gelegentlich überdrüssig, macht sich über sie  lustig.

Man kann nicht mehr über Gott und die Welt schreiben, es sei denn, man verfasst Adels- oder Arztromane, fünf Stück in Pack, für die SB-Kaufhalle.

Trotzdem hat auch der ernsthafte Autor seine Erfolgsrezepte, seine Ingredienzien, auch er kocht mit Wasser, selbst und gerade, wenn er die großen Welt-Themen anpackt, Gott, Freiheit, Frieden, Krieg, Heroismus, Todesnot, Barmherzigkeit, Liebe. Liebe - da haben wir ein Stichwort: Ohne Liebesgeschichte oder wenigstens -episode kommt ein literarischer Text kaum aus. Ich zähle im Wesentlichen drei Ingredienzien, deren sich alle großen und dabei womöglich auch noch erfolgreichen Autoren bedienen:

Liebe,

Tod,

Wahnsinn.

Das dritte muss ich erläutern: Gemeint ist nicht unbedingt die psychische Krankheit einer Figur, sondern die gesamte oft ganze Epochen und Völker erfassende Abweichung vom Normalen, die Absurdität, Irrationalität – etwa das Phänomen Hitler und Hitlerdeutschland, die Unfassbarkeit des Holocaust, Stalin, die Ermordung des großen Teils des sowjetischen Offizierscorps im Angesicht des drohenden Krieges, das Aussetzen der Logik im Großen wie im Kleinen – da hätten wir zur Zeit eine Figur wie G. W. Bush, der sich mit Wahlfälschung eine Präsidentschaft erschleicht, dann, für jedermann offenkundig, Kriegsgründe erfindet um an irakisches Öl heranzukommen – und schließlich trotz stärksten inneren und internationalen Protestes ein UNO-Mandat für die Verwaltung des überfallenen Landes erhält und daheim wiedergewählt wird.

Liebe, Tod und Wahnsinn, das sind Themen die bewegen.

Das war eine Abschweifung. Eine gar zu weitgeschweifte. Beim Geschichten -Schreiben dürfte ich das nicht. Denn was ist Schreiben – nach Hermann Kant – disziplinierte Abschweifung. Eben disziplinierte – auch in diesem Moment komme ich zu weit vom Thema ab.

Ich wollte ja über das Gedichtemachen  für Kinder reden.

Warum überhaupt reimen? Das ist schnell beantwortet: Das Kind merkt sich solche Texte besser. Noch heute stecke ich voller Kinderreime, die ich schon konnte, bevor ich las. Gesellt sich zum Reim ein origineller Rhythmus, dann hat eine tragende Idee Chance, selbst weitergetragen zu werden.

Noch etwas.

Für Kinder die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit, sie würde sie töten – diese Sentenz (sinngemäß zitiert) wurde immer Maxim Gorki untergeschoben. Man muss wohl den Satz bestätigen, aber andererseits bessert es nichts, die Wahrheit – im Sinne von bitterer, brutaler Wahrheit - diese in der Literatur von den Kindern fern zu halten. Denn sie holt sie sowieso ein. Es gibt da nur den Kompromiss, und für diesen eine Faustregel, die Kinderliteratur betreffend, formuliert von dem Literaturtheoretiker Günter Ebert:

Simplifikation, Identifikation, Aktion.

Das heißt schlicht: Schreibe simpel genug. Und lass den Tod eine Randerscheinung bleiben.

Schaffe einen Helden, mit dem der Leser fiebert.

Lass was passieren in deinem Text, lass das Kind zweifeln, aber nicht verzweifeln.

Ich hatte in einer ursprüngliches Ausarbeitung dieses Vortrags außer über den Reim auch ausführlich über den Rhythmus eines Gedichts referieren wollen, über Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapäst, über Stabreim, Knüttelvers, Alexandriner usw.

Aber das interessiert wohl keinen mehr.

Auch über die Aristotelische Poetik, die die Einheit von Ort, Zeit und Handlung eines Dramas postuliert, wollte ich kurz reden und dem Philosophen teilweise widersprechen. Aber wen rührt das heute. Lieber am Schluss eine Geschichte, die ich auswendig kann, es ist eine Geschichte über das Dichten, wenn auch nicht über Lyrik.

 

Das Märchen

In einer Schulklasse stellte ein alter Lehrer einmal die Aufgabe: "Kinder, schreibt ein Märchen."

"Wir haben noch nie ein Märchen geschrieben", hieß es.

"Eben", antwortete der Lehrer.

"Wie sollen wir das denn machen, eh!"

"Denkt euch eins aus."

"Darf eine Prinzessin vorkommen?" fragte einer.

"Ja, natürlich."

"Auch ein Prinz?" fragte eine.

"Ein Prinz auch."

"Eine Kutsche?" wollte noch jemand wissen.

"Wie ihr wollt."

"Räuber?"

"Es ist euer Märchen, nicht meins", sagte der Lehrer.

Als er später saß und bei einer Tasse Magentee die Arbeiten durchsah, las er als erste die folgende Geschichte: Eine Prinzessin reist in einer Kutsche, die wird von einem bösen Räuber überfallen. Zum Glück kommt ein Prinz des Wegs, verjagt den Räuber und bekommt zum Dank die Prinzessin zur Frau.

Insgesamt verliefen dreiundzwanzig Märchen ähnlich glücklich. Beim vierundzwanzigsten Schreiber, der als Querkopf galt, waren die Personen ein wenig vertauscht: Ein Prinz überfällt eine Kutsche, in der ein Räuber sitzt. DiePrinzessin vertreibt den Prinzen und heiratet zum Dank den Räuber.

Der fünfundzwanzigste war ein Spaßvogel. Er fand das Thema durch verschiedene Fernsehserien ziemlich abgedroschen und änderte alles: Eine Kutsche, in der keine Prinzessin sitzt, wird von keinem Räuber überfallen. Der Prinz heiratet die Kutscherin. Nicht zum Dank, einfach so.

Der Lehrer nahm einen Schluck Magentee und  schmunzelte.

Das sechsundzwanzigste Aufsatzheft gehörte Torsten. Der hatte sich folgendes ausgedacht: Ein Ei mit der Aufschrift FROHE OSTERN rollte in einen Bach, trieb dem Fluss zu und danach dem Meer. Eine Strömung trug es nordwärts, zum Nordpol. Das Salzwasser wusch mit der Zeit verschiedene Buchstaben von dem Ei, so dass zum Schluss nur noch FR OST zu lesen war. Seitdem ist es am Nordpol so kalt.

Als der Lehrer das gelesen hatte, seufzte er tief. Die Klasse würde Torstens Märchen voraussichtlich blöde finden. Trotzdem schrieb er eine Eins darunter. Er war ein mutiger Mann.